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KULTUR/044: Warum es kein freigeistiges Erbe in der BRD gibt (ha)


humanismus aktuell - Hefte für Kultur und Weltanschauung - Nr. 20 - Frühjahr 2007

Warum es kein freidenkerisches Erbe in der Kultur der BRD gibt

Von Günter Kehrer


Kirchlich-staatliche Feierkultur

Wer auch nur gelegentlich die im Fernsehen präsente Feierkultur der Bundesrepublik konsumiert, wird feststellen müssen, dass bei nahezu allen Anlässen religiöse Veranstaltungen der beiden großen Kirchen, der römisch-katholischen und der evangelischen, in trauter ökumenischer Eintracht dominieren. Dabei sitzen dann die politischen Repräsentanten in der ersten Reihe, auch wenn anzunehmen ist, dass sie Religion eher für Gedöns halten oder - um es drastischer auszudrücken - dass alles Religiöse ihnen irgendwo kalt vorbeigeht.

Ob ein Tsunami Verheerungen anrichtet und dabei auch etliche deutsche Sextouristen unterschiedlichen Glaubens wegspült, ob man des wievielten Jahrestages des Anschlusses von 1990 feiert, ob irgendetwas feierlich eröffnet wird oder ob der Transrapid mit einem Fahrzeug zusammenstößt, immer sind die Kirchen dabei; ja man hat sogar den wohl richtigen Eindruck, dass das öffentliche Begehen dieser Ereignisse eine Domäne der religiösen Organisationen sei.

Meistens agieren dabei auf katholischer Seite der Kardinal Lehmann, auf evangelischer Seite der etwas weniger barocke Herr Huber, der um nicht zu sehr von dem prächtigen Kostüm des katholischen Kollegen abzufallen, den angestammten schwarzen Talar des evangelischen verbi Divini minister gegen etliche bunte Gewänder eingetauscht hat.

Über das, was sie bei diesen Feierstunden glauben sagen zu müssen, breiten wir gnädig den Mantel atheistischer Nächstenliebe. Das Medium Fernsehen lebt nicht von dem Wort und möge es das Wort Gottes sein, sondern von der visuellen Präsenz.


Anpassung und Tradition

Wie lässt sich diese Dominanz des organisierten Christentums in der Feierkultur einer Gesellschaft erklären, in der weniger als zwei Drittel der Bevölkerung evangelisch oder katholisch sind und das mit abnehmender Tendenz, in der die Konfessionsfreien inzwischen die größte Gruppe sind und in der auch unter den Konfessionsangehörigen die Anzahl der Menschen, die sich selbst als unreligiös bezeichnen, die weder an Gott noch an ein höheres Wesen glauben, nicht unbeträchtlich ist. [1]

Nur einige Daten: 1990 (ich nehme bewusst ein frühes Datum) behaupten in Westdeutschland 55% von sich, sie seien religiös; in der ehemaligen DDR gerade einmal 32%. [2] Man geht deshalb wohl nicht fehl in der Annahme, dass die religiöse Überformung der Feiern die Mehrheit der Bevölkerung ziemlich unberührt lassen dürfte. Dennoch bedarf diese Überformung einer Erklärung, die zugleich auch eine Antwort auf die Frage sein könnte, warum es kein freidenkerisches Erbe in der Kultur der BRD gibt, obwohl doch fast alle unsere Geistesgrößen des 18. und des 19. Jahrhunderts in einem weiteren Sinne Freidenker waren. Entweder waren es dezidierte Religions- und Christentumsgegner oder sie vertraten ein so freisinniges, lichtfreundliches Christentum, dass die Kirchen völlig zu Recht in ihnen verkappte Agnostiker, wenn nicht gar Atheisten sahen und die katholische Kirche ihre Bücher auf den Index setzte. Leider gibt es dieses Verzeichnis der verbotenen Bücher nicht mehr, so dass man nicht auf einen Blick feststellen kann, welche Bücher es sich lohnt zu lesen.

Eine einfache Erklärung wäre der Rückzug auf die Tradition, d.h. auf die Tatsache, dass eben über Jahrhunderte die Kirchen ein faktisches Monopol bei der öffentlichen Gestaltung von Feiern besaßen und noch heute von den Restbeständen dieses Monopols leben. Diese Erklärung ist nicht ganz falsch. Sofern überhaupt das Bedürfnis besteht, bestimmte entweder einmalige oder zyklisch wiederkehrende Ereignisse mit einer Feier zu begehen, so bedarf es in arbeitsteiligen Gesellschaften Kultspezialisten, die sicherstellen, dass die Feiern in wiedererkennbarer Weise ablaufen. Natürlich nehmen nie alle Mitglieder einer Gesellschaft an einer Feier teil, entscheidend ist, das die Personen teilnehmen, die in irgendeiner Weise die Gesellschaft und ihre Teilsysteme repräsentieren. Und gerade hier ist auffällig, dass inzwischen sich kaum noch prominente Politiker finden lassen, die an kirchlich organisierten Feiern nicht teilnehmen. Wenn nicht alles trügt, scheint es sogar eine Zunahme an kirchlich-religiös bestimmten Feierlichkeiten zu nicht-religiösen Anlässen (etwa bei schweren Naturkatastrophen, spektakulären und opferreichen Unfällen) zu geben. Würde die Traditionshypothese ausreichen, so müsste sogar eine Abnahme festzustellen sein. Auch auf kommunaler Ebene scheinen sich kirchlich-religiöse Feiern fest zu etablieren: Schulereröffnungsgottesdienste, Einweihungen von Gebäuden oder Verkehrsstrecken.

Es stellt sich die Frage, ob es in der Geschichte unserer deutschen Gesellschaft keine Versuche gab, die religiöskirchlich gefärbte Feierkultur durch eine säkulare zu ersetzen - und wenn es sie gab, warum sie nicht erfolgreich war.

Zunächst ist festzustellen, dass es im zweiten Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Ansätze einer freidenkerischen Kultur und damit einer freidenkerischen Feiergestaltung gab. Manche Elemente sind davon in die allgemeine Kultur der BRD aufgenommen worden, ohne allerdings ihre freidenkerischen Wurzeln noch präsent zu halten. Ich möchte nur an die Feuerbestattung erinnern, die bei ihrer Einführung im 19. Jh. verbunden war mit einem klaren Bekenntnis zu einer säkularen Weltauffassung und gegen jeglichen Glauben an eine Auferstehung. Nicht umsonst taten sich die Kirchen schwer mit der Akzeptanz der Feuerbestattung, bis auch die katholische Kirche sie widerwillig hinnahm.

An diesem Beispiel kann man schon ablesen, warum es auf einem wichtigen Feld der Alltagskultur der BRD nicht zu einer Dominanz freidenkerischer Vorstellungen kam. Hätten die Kirchen auf ihrer Ablehnung der Feuerbestattung beharrt und hätte sich diese - aus unterschiedlichen Gründen - dennoch langsam immer mehr durchgesetzt, so hätten immer mehr Trauerfeiern ohne kirchliche Beteiligungen stattgefunden, bei denen möglicherweise freidenkerische Elemente anstelle religiöser dominiert hätten.

Etwas allgemeiner formuliert: die großen Kirchen haben - wenn auch mit zeitlicher Verzögerung - den Anpassungsprozess ihrer rituellen Angebote an veränderte Vorstellungen geleistet. Sie reduzierten die Glaubensaussagen auf formelhafte Reststücke, die den meisten Beteiligten nicht bewusst wurden.


Religion als Privatsache

Demgegenüber hatten es die zögerlichen Versuche einer freidenkerischen Kultur schwer. Und zwar vor allem weil dieser Kultur die Trägerschaft fehlte. Die freigeistigen und freidenkerischen Vereine waren aus eigener Kraft nicht in der Lage, gegen die Dominanz der kirchlich gefärbten Kultur eine eigenständige Kultur zu etablieren. Ich glaube, dass der Hauptgrund für dieses Unvermögen darin zu suchen ist, dass es zu keiner Verbindung zwischen einer freidenkerischen und einer politischen Kultur kam. Für eine kurze Zeit sah es so aus, als könnte es doch dazu kommen, als es im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts enge personelle Verbindungen zwischen der Sozialdemokratie und Freidenkern gab.

Aus verständlichen politischen Gründen rückte die Sozialdemokratie die Religionsfrage jedoch nicht in das Zentrum ihrer politischen Aktion. Die berühmte Formulierung, dass Religion zur Privatsache zu erklären sei, bezog sich zwar zunächst nur auf das Verhältnis des Staates zur Religion, wurde aber zunehmend auch so verstanden, dass die Partei sich selbst um Religion und Aufklärung nicht zu kümmern habe.

Schon Marx hatte 1875 in seiner Kritik des Gothaer Programms bemängelt, dass "die Arbeiterpartei ... ihr Bewusstsein darüber aussprechen (müsste), daß die bürgerliche 'Gewissensfreiheit' nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit [Hervorhebung von Marx], und daß sie vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien strebt." [3] Bekanntlich hat Lenin dreißig Jahre später (1905) sich ebenso dagegen ausgesprochen, dass Religion der eigenen Partei gegenüber als Privatsache zu behandeln sei. [4]

Man kann es so ausdrücken: Das politische Milieu der Arbeiterparteien ging mit dem freidenkerischen Milieu der Religionskritik keine dauerhafte Verbindung ein. Dafür gab es - wie schon angedeutet - gute politische Gründe. Gerade im Deutschland der Bismarckzeit war es sinnvoll, sich aus den Kulturkampfquerelen herauszuhalten, zumal im Westen des Landes ein vielfach noch eng mit dem Katholizismus verbundenes Proletariat zu gewinnen war. Damit sind wir auf einen Sachverhalt gestoßen, der unmittelbar mit unserer Frage zusammenhängt, nämlich die konfessionelle Ausprägung der christlichen Religion in Deutschland.


Kaiserreich - Parallelen zur Freimaurerei

Von den größeren Staaten in Europa war und ist Deutschland der einzige Nationalstaat, in dem zwei große konfessionell unterschiedene Kirchen existieren (ich übergehe die innerevangelischen Unterschiede). Die Gründe für diese exzeptionelle Situation brauche ich nicht zu nennen. Die politischen Ereignisse im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts führten für die katholische Kirche zu einer Entfeudalisierung und zu einer ultramontanistisch gefärbten Vervolkstümlichung, der auf der evangelischen Seite eine interne Differenzierung zwischen einer Entliberalisierung und einer zunehmenden Entdogmatisierung gegenüberstand, wobei ein so genanntes freies Christentum seine Trägerschicht im liberalen Bürgertum hatte.

Mit der kleindeutschen Lösung bei der Gründung des Nationalstaats 1870 kam es zu einer Dominanz der evangelischen Variante des Christentums. - Während in Frankreich der dritten Republik die politische Differenzierung zwischen linken und rechten Milieus bis zum ersten Weltkrieg weitgehend davon bestimmt war, dass "links" bedeutet: republikanisch und antiklerikal, "rechts" dagegen: royalistisch und katholisch und links sowohl die republikanisch bürgerlichen Parteien (parti radical et radical socialiste) als auch die sozialistische Partei umschloss, waren die politischen Milieus sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik nicht in gleichem Maße religiös bzw. säkular-laizistisch geprägt.

Man kann dies sehr gut am Parteienspektrum verdeutlichen: Die konservative Partei (DNVP in der Weimarer Republik) war royalistisch, orthodox evangelisch und partiell anti-katholisch; die liberalen Parteien von den Nationalliberalen (DVP in Weimar) bis zum Freisinn waren antikatholisch, liberal-protestantisch und gemäßigt royalistisch; das Zentrum: klerikal-katholisch mit einem linken und einem rechten Flügel. Keine dieser Parteien war im französischen Sinne antireligiös.

Anders ausgedrückt: Die bürgerlichen Milieus konnten ihre anti-religiösen Ressentiments als anti-katholisch ausleben, während die freidenkenden Individuen katholischer und bürgerlicher Herkunft in den nicht katholischen Parteien zugleich auch propreußische Parteien unterstützt hätten, was den überwiegend im Süden und Westen des Reichs lebenden Menschen schwer fallen musste. Katholisch war eben nach 1870 in Deutschland nicht mit der preußisch dominierten Monarchie kompatibel.

Gesellschaften mit einer lebendigen säkularen freidenkerischen Kultur sind katholisch. Nur in diesen Gesellschaften entwickelte sich eine bissige Aufklärung, denn Aufklärung ist ohne Religionsfeindschaft nicht zu haben. In Deutschland ging dagegen die Aufklärung ein Bündnis mit den freieren Teilen des Protestantismus ein und verlor dadurch den anti-religiösen Impetus.

Man kann diese Entwicklung sehr gut an der unterschiedlichen Prägung der Freimaurerei in Frankreich und Deutschland ablesen. Trotz aller Hochgradphantastereien ist der Grand-Orient immer antiklerikal geblieben. Freimaurer zu sein war in Frankreich der Dritten Republik explizit gleichbedeutend mit nicht-kirchlich. Ganz anders in Deutschland; hier blieb die Freimaurerei immer gemäßigt aufklärerisch und protestantisch geprägt. Während in Frankreich der Grand Orient bewusst auf die Berufung auf Gott verzichtete, hielten die Großlogen in Deutschland daran fest und sei es in der milden Form der Berufung auf den großen Baumeister aller Welten.

Die meisten Logen verlangten sogar eine irgendwie gestaltete Zugehörigkeit zum Christentum, d.h. neben Atheisten waren auch Juden ausgeschlossen. Dem Versuch einer freidenkerischen Großloge Zur aufgehenden Sonne war kein rechter Erfolg beschieden, zumal die etablierten Großlogen lange Zeit eine Anerkennung verweigerten und damit die Logen der Großloge Zur aufgehenden Sonne im Geruch der Winkellogen standen.

So verblieb die freidenkerische Aktivität weitgehend losgelöst von dominanten gesellschaftlichen und politischen Milieus, zumal ein handlicher Gegner fehlte: Der Ultramontanismus hätte sich zwar angeboten, aber diese mögliche Gegnerschaft war schon vom liberalen Protestantismus besetzt. Eine Abgrenzung zwischen Freidenkern, Freireligiösen und liberalen Pro- [Text im Original an dieser Stelle abgebrochen. Die SB-Red.]

Schon vor 1848 äußerte sich der Anti-Ultramontanismus nicht explizit religionsfeindlich, sondern rom-feindlich. Johannes Ronge (1813-1887) und die durch ihn gegründete deutsch-katholische Bewegung ist dafür ein gutes Beispiel. Die alt-katholische Kirche nach 1871 ist ebenfalls zu nennen.

Noch vertrackter war die Lage im Protestantismus. Das Spektrum reichte von der Orthodoxie mit Elementen der Erweckungsbewegung über gemäßigte Mittelparteien bis zu äußerst liberalen Positionen, deren Vertreter manchmal den Schritt aus ihrer Kirche heraus unternahmen (Eduard Baltzer, 1814-1887). Die von ihnen gegründeten religiösen Gruppen (Sammelbezeichnung: Lichtfreunde) waren reine Personalgemeinden, die sich um ehemalige Pastoren der evangelischen Kirche sammelten: Julius Rupp, Eduard Baltzer, Leberecht Uhlich - um nur einige zu nennen.

Wichtig ist, dass die Grenze zwischen noch-kirchlich und außer-kirchlich nicht scharf gezogen war. Ob ein Pastor glaubte, noch in seiner Kirche verbleiben zu können, bzw. ob er in dieser noch toleriert wurde oder ob er außerhalb der Kirche sein Auskommen finden musste, hing von sehr vielen Faktoren ab. In der "Welt des Freien Protestantismus" gab es viele Zwischen-Welten. Die zahlreichen Doppelmitgliedschaften bei freidenkerischen und bei freireligiösen Vereinigungen taten ein Weiteres zur Verhinderung klarer anti-religiöser, aufklärerischer Positionen.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass es in Deutschland nicht zu einer Allianz zwischen Fortschritt und antireligiösem Freidenken kam. Überspitzt formuliert: Der Protestantismus verhinderte konsequent säkulares Denken, indem er die Möglichkeit bot, Religion so weit zu reduzieren, dass man sich kirchlicher Rituale bedienen konnte, ohne die mythisch-religiösen Begründungen rezipieren zu müssen.


Weimarer Republik - "hinkende" Trennung

Der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs 1918 hätte die Möglichkeit eröffnen können, die Verhältnisse von Staat und Religion auf eine fortschrittliche Art zu regeln, d.h. im Sinne einer Trennung von Staat und Kirche nach französischem Vorbild. Bekanntlich kam es nicht dazu. Die Gründe sind einfach aufzuzählen: Die Weimarer Koalition, das heißt die sie tragenden Parteien (SPD, Zentrum und Liberale) konnten sich nicht auf entsprechende Verfassungsformulierungen einigen.

So kam es zu Lösungen, die Juristen als "hinkende" Trennung von Staat und Kirchen bezeichneten. Die Kirchen blieben in ihren Positionen weitgehend unverändert bestehen: Das System der Kirchensteuern, die Staatsleistungen, der konfessionelle Religionsunterricht, die theologischen Fakultäten, alles blieb erhalten; die evangelischen Kirchen mussten sich eine neue Spitze suchen, was aber lediglich eine administrative Aufgabe war.

Der Staat - die Weimarer Republik - definierte sich nicht säkular - diese Kontinuität besteht bis heute. Eine Formulierung wie "La France est une république unique, sociale et laique" wäre für Deutschland schwer vorstellbar. Die Differenzierung zwischen "links" und "rechts" erfolgte auch zwischen 1919 und 1933 nicht in Übereinstimmung mit "säkular" und "klerikal". Zwar war der kirchlich organisierte Protestantismus tendenziell eher rechts und reaktionär, aber er wurde nicht unbedingt als Speerspitze der Reaktion wahrgenommen. Der Katholizismus war wiederum politisch ambivalent. Die politischen Parteien ambivalent. Die politischen Parteien - mit Ausnahme der KPD - fanden sich mit dem staatskirchlichen Kompromiss der Weimarer Verfassung ab. Die sozialdemokratisch oder kommunistisch beherrschten Freidenkerverbände (Deutscher Freidenkerverband bzw. Verband proletarischer Freidenker Deutschlands) mit ca. 500.000 resp. 100.000 Mitgliedern entstanden gegen Ende der Weimarer Republik, vermochten aber nicht eine kulturelle Bewegung zu initiieren.

Dafür war die Zeit ihres Wirkens zu kurz (die proletarischen Freidenker wurden schon im Mai 1932 verboten). Außerdem spitzten sich die sozialen Auseinandersetzungen (Weltwirtschaftskrise!) so zu, dass alle anderen Fragen als Nebenwidersprüche erschienen. Der Staat und seine Organe waren inzwischen so weit nach rechts gerückt, dass von dort keine Impulse für eine säkulare Kultur zu erwarten waren, zumal in der NSDAP eine religionsfreundliche Partei auftrat.

Entgegen der zahlreichen besonders nach 1945 entstandenen Legenden war der Nationalsozialismus weder säkularistisch noch prinzipiell christentumsfeindlich. Zwar gab es im NS eine Strömung, die eine so genannte arteigene auf vermeintlich germanische Wurzeln zurückgehende nicht-christliche Religiosität propagierten (Heinrich Himmler war ihr prominentester Fürsprecher), aber diese Strömung war nie dominant in der Bewegung. Alle Bestrebungen, eine NS-kompatible Religion neben den beiden christlichen Kirchen zu etablieren, wurden von Hitler und anderen maßgebenden NS-Führern zurückgewiesen.

Vielmehr ging es der braunen Elite eher darum, die Kirchen in ihr Herrschaftssystem einzubinden, was auch vom Tag von Potsdam über das Reichskonkordat relativ gut gelang. Natürlich gab es besonders auf der unteren Ebene religiös begründeten Widerstand gegen den Nazismus, aber insgesamt war das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen - von bestimmten Ereignissen abgesehen (Euthanasie) - nicht von einer durchgängigen Feindschaft gekennzeichnet.

Die Kirchenaustrittswelle 1938 bis 1940 führte nicht zu einem Ansteigen säkular-freidenkerischen Denkens, sondern mündete in eine nebulöse Kategorie "Gottgläubigkeit" ein. Mit Recht sah der NS in der Konfessionslosigkeit ein linkes Programm, von dem er sich immer abgesetzt hatte. Die Verbände der Freidenker und der Dissidenten wurden schon bald nach der Machtergreifung aufgelöst, teilweise wurden Kinder konfessionsloser Eltern in den konfessionellen Religionsunterricht gezwungen - kurz: Die Jahre zwischen 1933 und 1945 trugen nicht zu einer möglichen Verstärkung freidenkerischer Traditionen bei.


BRD - Renaissance der Religion

Die Nachkriegszeit - und ich spreche jetzt nur von Westdeutschland - brachte geradezu eine erste Renaissance von Religion. Es ist für unser Thema von besonderer Bedeutung, die Gründe für diese Renaissance genauer zu benennen. Ich möchte sie in folgende Punkte gliedern: Politik der Besatzungsmächte, Strategie der Schuldabwehr, Antikommunismus, Entkonfessionalisierung.


Besatzungspolitik

Alle Besatzungsmächte - auch die Rote Armee - legten gegenüber den großen Kirchen eine ausgesprochene Zurückhaltung an den Tag, wenn man nicht sogar von einer Begünstigung sprechen will. Die Gründe für diese Politik sind meines Wissens bis heute nicht erforscht worden. Vielleicht gingen sie von der Annahme aus, der NS sei christentumsfeindlich gewesen oder vielleicht auch ganz pragmatisch von der Erwartung, dass die organisierte Religion es immer mit den Gewinnern hält.

Auf jeden Fall war das Ergebnis dieser Politik eindeutig. Die Kirchen konnten ihre organisatorischen Strukturen praktisch unbeschadet über 1945 hinüberretten, vor allem die personellen Identitäten blieben bis auf wenige Ausnahmen bestehen. Gerade in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten und -jahren funktionierten die Kirchen mit ihren gemeindlichen Strukturen und ihren angestammten Hilfswerken, aber auch mit neugegründeten (Diakonisches Hilfswerk) als Anlaufstellen für Ratsuchende.

Die Rundfunkstationen (unter Besatzungsregie) erlaubten Rundfunkansprachen von Theologen beider Konfessionen (natürlich nur nach erfolgter Zensur), in denen - wenn auch vorsichtig - Probleme der Bevölkerung (Nahrungsmangel etc.) angesprochen wurden. Die Besatzungsmächte ermöglichten so auf vielfältige Weise, dass die Kirchen in einer Weise öffentlich präsent wurden, wie es nach 1918 nicht mehr üblich war.

Diese Politik ist um so erstaunlicher, als zumindest die Sowjetunion und Frankreich eigentlich eine Politik der strikten Trennung von Staat und Kirche hätten vertreten müssen und auch die USA keine Befürworter staatskirchlicher Konstrukte sind. Von Seiten der Bevölkerung erschien es vorteilhaft, sich kirchlich zu gerieren, konnte man doch damit scheinbar dokumentieren, dass man mit dem NS nichts zu tun und den allgemeinen abendländischen Konsens bejahte.


Strategie der Schuldabwehr

Nachdem es nicht mehr möglich war, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu leugnen, entstand unausweichlich die Frage, wie es dazu kommen konnte, wie es möglich war, dass eine der führenden Kulturnationen Europas in eine Mordorgie versinken konnte, die historisch ohne Beispiel war. Weil sehr viele Deutsche als Mittäter, Mitwisser, Mitschweigende an den Verbrechen beteiligt waren, wurde es notwendig, eine Strategie zu entwickeln, die das Ergebnis hatte, dass man selbst eigentlich überhaupt nicht beteiligt war.

Eine Teilstrategie bestand darin, die Täter zu entterritorialisieren. Die Verbrechen wurden "im deutschen Namen" begangen, aber wohl von Nicht-Deutschen. War es unumgänglich, von den Tätern zu sprechen, so handelte es sich nicht um "Reichskanzler, Reichsinnenminister" usw., sondern um Nationalsozialisten, deren Ideologie irgendwie über das deutsche Volk gekommen war und es vom rechten Weg abgebracht hatte. Die Hauptstrategie war es, den NS als Resultat des "Abfalls von Gott" zu interpretieren. Je nach konfessioneller Ausprägung konnte man den Beginn dieses Abfalls schon mit der Reformation beginnen lassen (katholische Variante) oder mit der Aufklärung (konservativ-evangelische Variante).

Beiden Varianten war gemeinsam, dass der NS in der direkten Abfolge des Verlustes an Religion stand. Das Volk, das den Glauben an Gott verliert, wird Beute unmenschlicher, weil gottloser Ideologien. In diesem Zusammenhang gewann die Rede vom "christlichen Abendland" ihre Konturen. Wollte man Teil der zivilisierten Menschheit werden, so war dies möglich durch das Bekenntnis zum christlichen Abendland und der entschiedenen Verwerfung allen gottlosen Denkens. Zu sagen, man sei Atheist, geriet in die Nähe der Amoralität, der Ablehnung sittlicher Normen, deren Ergebnis man ja in den Ereignissen vor 1945 gesehen hatte. So war es ein glücklicher Umstand, dass man dieses religiöse Konstrukt nahtlos in den Antikommunismus überführen konnte, der so als weiteres Kind des Abfalls von Gott vorgestellt wurde.


Antikommunismus

Wer sich noch an die 1950er Jahre zurückerinnern kann und nicht nur an Wirtschaftswunder denkt, wird als eines der markantesten Kennzeichen der Adenauer-Zeit den massiven Anti-Kommunismus im Gedächtnis behalten haben. In dieser Hochzeit des Kalten Krieges kam es zu einer Renaissance der Kirchen. Dies drückt sich zum einen in der Tatsache aus, dass die Mitgliedszahlen in den Kirchen stiegen - die meisten der in den Jahren nach 1938 Ausgetretenen meldeten sich lautlos in die Kirchen zurück.

Zum anderen galten die Kirchen und die von ihnen vertretenen Weltanschauungen als Garanten einer den westlichen Werten verpflichteten Ideologie, während der Sowjetkommunismus (so die damalige Terminologie) als eines seiner Merkmale die Gottlosigkeit aufweisen sollte. Der Mief der 1950er Jahre enthielt eine beachtliche Portion Religion. Zwar gab es noch Restbestände freidenkerischer Tradition von vor 1933, die aber nie die Stärke erreichte, die sie in der Weimarer Republik besessen hatte. Sich offen als religionslos zu outen, war für die noch so bescheidene Karriere nicht förderlich. In den Rundfunkräten besaßen die Kirchen starke Positionen, mit denen sie wenigstens alles verhindern konnten, was als Kirchenkritik hätte wirken können.


Entkonfessionalisierung

Begünstigt wurde diese Entwicklung durch eine langsame Entkonfessionalisierung der christlichen Religion. Während noch zu Beginn der 1950er Jahre die Differenzierung zwischen katholisch und evangelisch sowohl kulturell spürbar war als auch von Seiten der Kirchen bewusst vertreten wurde (z.B. in der Polemik gegen die sog. Mischehen), erzwang die Auflösung regional homogener konfessioneller Milieus aufgrund von Migration die Kirchen zu einer langsamen Zurücknahme scharf profilierter Positionen. Von entscheidendem Einfluss war dabei die Entkonfessionalisierung auf der politischen Ebene.

Die Gründung der CDU und ihr Erfolg bei Wahlen, bei gleichzeitiger Erfolglosigkeit des wiedergegründeten Zentrums befreite die neugegründete Partei langfristig von dem Geruch des Ultramontanismus. Unter dem gemeinsamen Label "christlich" konnten sich Menschen wiederfinden, die einer katholischen Partei nie ihre Stimme gegeben hätten. Tatsächlich dauerte es fast zwei Jahrzehnte, bis die CDU sich völlig vom Verdacht, das ökumenisch verkappte Zentrum zu sein, befreien konnte. Inzwischen war es den Kirchen und ihren angeschlossenen Organisationen (Caritas und Diakonie) gelungen, relativ unauffällig wichtige Positionen zu besetzen.

Von herausragender Bedeutung war dabei die Sozialgesetzgebung, und hier das Bundessozialhilfegesetz von 1961, das vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigt wurde. Dieses Gesetz erhob das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre quasi in Verfassungsrang, indem es die Träger der Sozialhilfe (Kreise und kreisfreie Städte) verpflichtete, freien Trägern bei der Erfüllung sozialhilferischer Aufgaben den Vorrang zu lassen und sie zu finanzieren. Seit dieser Zeit haben die freien Träger (und das sind überwiegend die Kirchen und die ihnen nahe stehenden Verbände) das Recht des ersten Zugriffs bei Einrichtung von Kindergärten, Altenheimen, Jugendhilfeeinrichtungen etc.

Damit ist eine fast selbstverständliche Präsenz in der Öffentlichkeit gegeben, die allerdings nur dann wirksam werden konnte und kann, wenn auf eine scharfe religiöse oder gar konfessionelle Profilbildung verzichtet wird. Anders ausgedrückt: Das religiöse Element darf nicht polarisierend oder gar gesellschaftlich destruktiv wirken, es muss vielmehr als allgemeines Hintergrundrauschen präsent sein.

Erst wenn es Repräsentanten des politischen Lebens auf kommunaler und auf nationaler Ebene gibt, die sich unaufgeregt, aber unmissverständlich religiösen Feiern entziehen, d.h. nicht teilnehmen, kann der Gedanke vielleicht wieder in das kulturelle Bewusstsein dieser Gesellschaft kommen, dass die organisierte Religion christlicher Prägung eine Privatangelegenheit der Bürger ist. - Aber das ist wahrscheinlich noch ein langer Weg.


Anmerkungen:

[1] Für nähere Angaben siehe http.//www.fowid.de/

[2] Vgl. Günter Kehrer: Atheismus Light. In: Richard Faber u. Susanne Lanwerd (Hg.): Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität? Würzburg 2006, S.199ff.

[3] Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms). In: Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1962, Bd. 19, S.31.

[4] W.I. Lenin: Sozialismus und Religion. In: Lenin Werke, Berlin 1972, Bd. 10, S.70ff.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 20 - Frühjahr 2007, Seite 105-113
Hefte für Kultur und Weltanschauung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2007