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STANDPUNKT/170: Humanismus - Gedanken zu Theorie und Praxis (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 79/2007
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Humanismus - Gedanken zu Theorie und Praxis

Von Hubert Schulz, Herbert Wils


In Heft 77 legte Armin Pfahl-Traughber Thesen zu einer Theorie des Humanismus vor und bat um ausführliche Diskussion dieses Textes. Die Ortsgemeinschaft Hagen des Humanistischen Verbandes Nordrhein-Westfalen ist diesem Aufruf gefolgt. Lesen Sie hier ihre Erwiderung.


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Für uns war die Diskussion über Humanistische Grundsätze mit der Erarbeitung des Humanistischen Selbstverständnisses nicht beendet. Deshalb begrüßen wir den Text als aktuellen Beitrag über Humanismus in einer sich wandelnden Welt. Der Autor setzt eingangs eine "Definition des Gemeinten" voraus. Leider wird von ihm im Fortgang der Argumentation nur ansatzweise der Versuch einer solchen Definition vorgenommen. Zuzustimmen ist dem Autor, dass es kein entdeckbares "wahres Wesen" des Humanismus gibt, wenn damit ein ewiges, unveränderliches, ahistorisches, von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängiges Weltbild, eine Theorie mit dem Anspruch einer objektiven ewigen Wahrheit, eines von menschlichem Handeln und der materiellen Welt unabhängigen Weltgeistes oder ähnliches gemeint ist. Im Gegensatz zur Auffassung des Autors lässt sich nach unserer Meinung allerdings sehr wohl - zumindest ansatzweise - sowohl aus der Begriffsbedeutung des Humanismus, als auch in besonderem Maße aus seiner Begriffsgeschichte eine inhaltliche Klärung ableiten.

Der Begriff Humanismus stammt aus dem Neulateinischen. Abgeleitet von "humanus" - menschlich, menschenfreundlich und "humanitas" - Menschlichkeit, Menschheit. Der Begriff ist historisch erst relativ spät zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt worden. Er beinhaltet allgemein das Streben nach Menschlichkeit und menschenwürdiger Daseinsgestaltung. Er verkörpert jene Ideen und Bestrebungen in der Geschichte der Menschheit, die aus der Achtung der Menschenwürde, seiner Persönlichkeit, der Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte, der Überzeugung der Entwicklungsfähigkeit der Menschheit und letztlich auf der Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft durch bewusstes gesellschaftliches Handeln wurzeln.


Weltbildung nach antikem Vorbild

Im engeren historischen Sinne wird, ohne dass der wörtliche Begriff Humanismus in dieser Zeit geläufig war, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Zeit verbundene, als Renaissance bezeichnete komplexe, fortschrittliche Kultur und Bildungsbewegung etwa vom 14. bis zum 16. Jahrhundert verstanden. Ihr Anspruch war es, sich durch Wiedererweckung der humanistischen Werte der Antike gegen die geistige Alleinherrschaft des Klerus zu positionieren. Ziel war die Vermittlung eines Welt- und Menschenbildes nach antikem Vorbild. Von kirchlicher Autorität unabhängig, diesseitig orientiert und optimistisch, auf eine uneingeschränkte menschliche Persönlichkeitsentfaltung ausgerichtet. Akteure und Repräsentanten dieser Bewegung - Philosophen, Natur- und Geisteswissenschaftler, Dichter und auch politisch Wirkende werden seit dem 16. Jahrhundert geläufig als Humanisten bezeichnet.

Der Humanismus basiert also keineswegs nur auf Ideen aus der griechisch-römischen Antike bzw. ihrer Weiterbildung im späteren sogenannten christlichen Abendland. Die Geschichte der Entwicklung des Humanismus erklärt sich vielmehr aus dem Zusammenhang der universellen gesellschaftlichen, geistig-kulturellen Entwicklung der Menschheit. Diese ist nicht zu trennen von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, wesentlich geprägt durch Kriterien der Unfreiheit und vor allem Ungleichheit, die ihre bestimmenden Ursachen bis heute in der Geschichte der menschlichen Arbeit, ihrem gesellschaftlichen Charakter und ihrer privaten Aneignung hat. Historisch beispielhaft und unstrittig steht dafür die antike Gesellschaft. Der Humanismus der Sklavenhalter schloss die Sklaven als Schöpfer der materiellen Werte kategorisch aus.


Nachdenken des Menschen über sich selbst

Die Geschichte des Humanismus beginnt mit dem bewussten Nachdenken des Menschen über sich selbst. Diese Fragen haben allerdings immer historisch konkrete Bedingungen seines gesellschaftlichen, materiellen und geistigen Lebens zur Voraussetzung. Sie wurden erst gestellt, nachdem sich die Menschen nicht mehr als Wesen gleicher Ordnung gegenüberstanden, sondern sich als Ungleiche, als Herren und Sklaven, als Herrschende und Unterdrückte begegneten.

Der Autor möchte mit seinen Thesen zu einer entwickelten Theorie des Humanismus "Anregungen und Problemstellungen für deren Konzeption liefern." Für eine Theorie bedarf es aber - wie der Autor eingangs auch einschätzt - allerdings mehr als einer Aneinanderreihung von Thesen, programmatischen Fragmenten und Wissenssätzen.

Hilfreich ist nach unserer Meinung auch nicht die Abgrenzung einer humanistischen Theorie von anderen Theorien.

Eine klare Abgrenzung gibt es allerdings philosophisch und begrifflich zwischen der objektiven Wirklichkeit und der Theorie als Werkzeug, diese Wirklichkeit zu erkennen. Dabei ist Erkenntnistheorie mehr als nur empirische Methode. Ihr allgemeines Ziel ist die Erkenntnis der Wirklichkeit und deren Veränderung.

Die Theorie ist auf das Engste mit der gesellschaftlichen Praxis, mit der Realität menschlichen Lebens verbunden. So gesehen sind die menschlichen Lebensverhältnisse selbst letztlich materielle Grundlage und Triebkraft der Herausbildung einer Theorie des Humanismus. Sie sind, bei aller "Begrenztheit menschlichen Wissens", das höchste Kriterium ihrer Wahrheit.

In diesem Sinn ist Pfahl-Traughber beizupflichten: "Eine Option kann in der Ethik eines Humanismus münden, welche den Menschen in seiner Individualität und Würde ins Zentrum stellt und dabei dessen soziale Einbettung nicht unterschlägt."

Allerdings ist es dabei mit einem "Katalog von Merkmalen einer humanistischen Ethik" nicht getan. Ein solcher Katalog wäre immer historisch an konkrete Erfahrungen gebunden und selbstverständlich in diesem Sinne ständigem Wandel unterworfen.


Theorien müssen an der Erfahrung scheitern können

"Theorien müssen an der Erfahrung scheitern können." Dem ist zuzustimmen. Diesen Maßstab sollte der Autor selbst aber auch bei seiner Bewertung und Kommentierung "mit dem Verweis auf die Anmaßung einer Erkenntnis der Tugend der Vernunft nach der Französischen Revolution oder der Gesetze der Geschichte nach der Russischen Revolution" anlegen.

Eine Analyse von geschichtlichen Prozessen setzt ihre Einbettung in den konkreten historischen Zusammenhang voraus. Sie greift zu kurz, wenn sie sich auf die Bewertung historischer Vorgänge nach heutigen wie auch immer definierten zumeist moralischen Kriterien beschränkt.

In These 13 sagt der Autor zu Recht: "Eine aufgeklärte Religionskritik darf nicht bei der Auseinandersetzung mit den Begründungsfragen verharren, sondern muss einen Schritt weiter zu den Erklärungsfragen gehen." Genau dazu leistete vor mehr als anderthalb Jahrhunderten bereits ein gewisser Karl Marx einen fundierten Beitrag zur Debatte. Die entsprechende Passage im Zusammenhang gelesen heißt so:

"Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion ... aber der Mensch das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen ... Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt ... ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also unmittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestaktion gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. ... Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf." (MEW 1, S.378)


Humanismus kann politisch nicht neutral sein

In diesem Sinn sind sie ein hochaktueller Beitrag zur richtigen Aussage des Autors: "Humanismus im bislang definierten Sinn kann politisch nicht neutral sein." Sie muss "Kritik an und Protest gegen bedenkliche Entwicklungen und ungerechte Zustände" einschließen. Das allein ist aber nicht Gegenstand einer Debatte lediglich zur Theorie des Humanismus. Gegenstand der Debatte ist gleichermaßen die Orientierung sowohl im Sinne eines politischen Pragmatismus in der Tagespolitik - als auch für Humanisten als Akteure auf die verschiedensten durch die gesellschaftlichen Verhältnisse vorgegebenen Handlungsfelder. Dazu bedarf es nach unserer Meinung (bereits auch schon ohne bis ins Detail entwickelte und ausformulierte Programmatik oder gar Theorie) heute für Humanisten vor allem einer klaren Positionierung: In der Frage Krieg/Frieden, in den Spannungsfeldern Ökologie/Ökonomie, in der sozialen Frage der Menschheit usw.

Unverständlich ist, wenn sich der Autor in These 16 gängiger und undifferenzierter antikommunistischer Klischees bedient und dabei mit dem Begriff "orthodoxe Marxisten-Leninisten" einen alten Kampfbegriff aus der Mottenkiste des Kalten Krieges hervorkramt. Bei der "Abgrenzung von Organisationen und Positionen" nennt er "rechtsextremistische Neoheiden" und "dubiose Psychogruppen" in einem Atemzug mit "orthodoxen Marxisten-Leninisten". Das riecht sehr nach Geschichtsrevisionismus und erklärter Absicht, Marxisten und Teile der politischen Linken vom Erbe des Humanismus zu trennen, aber auch als Akteure aktueller Praxis humanistischer Politik auszugrenzen.

Links und Rechts, Rot und Braun, Täter und Opfer im Sinne eines nicht näher definierten Begriffs und eines "allgemeinen politischen Extremismus" in einen Topf zu werfen, bringt uns in der Debatte nicht weiter. Weder wenn es um die Inhalte humanistischer Theorie, "grundlegende humanistische Prinzipien", noch um ihre politisch-praktische Entsprechung geht.


Hubert Schulz ist Mitglied der Ortsgemeinschaft Hagen. Herbert Wils ist dort Vorstandsmitglied und ehemaliger Vizepräsident des Humanistischen Verbandes Nordrhein-Westfalen.


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 79/2007, S. 18-19
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
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Internet: http://www.humanismus.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2007