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VERBAND/055: Frauenpolitik im Humanistischen Verband Berlin (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 78/2007 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Frauenpolitik im Humanistischen Verband Berlin - ein Rückblick auf ereignisreiche Jahre

Von Ines Petra Scheibe


Im Jahr 1990, kurz nach Maueröffnung, gewann - ausgelöst durch das mich damals sehr interessierende Fach Lebenskunde - der Deutsche Freidenkerverband Westberlin (DFV) meine Aufmerksamkeit. Ich besorgte mir Materialien des Vereins und nahm Kontakt zur Geschäftsstelle in der Neuköllner Hobrechtstraße auf. Mich interessierte nicht nur die Bildungsarbeit, sondern alle Angebote dieses Vereins, seine Grundlagen und Ziele, mit denen ich mich recht schnell gut identifizieren konnte. Am 1. März 1992 wurde ich Mitglied.


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Ein ehrenamtlicher Zusammenhang des Vereins, der durch die Maueröffnung und später durch die Vereinigung einen Aufschwung nahm, war die Frauengruppe. Dafür interessierte ich mich von Anfang an sehr. Mich begeisterten die Inhalte und die für mich neue Form der selbstbestimmten Gruppenarbeit sowie die positiven Erfahrungen des menschlichen Umgangs der Freidenkerinnen und Freidenker. In der Frauengruppe trafen Freidenkerinnen und weitere interessierte Frauen aus dem West- und Ostteil der Stadt aufeinander, tauschten gleichberechtigt ihre Gedanken, Gefühle und Ideen aus, entwarfen gemeinsam Projekte, mit denen freidenkerische Positionen frauenspezifisch untersetzt und damit bereichert werden sollten. Aktivistinnen der Frauengruppenarbeit in dieser Zeit waren Siggi Fries, Wiebke Berking und Sabine Schermele.


Professionelle Beratung

Ein Projekt, das wir in dieser Anfangszeit konzipiert haben, ist die Schwangerschaftskonflikt-Beratungsstelle, die im August 1992 in Prenzlauer Berg, in der Pappelallee 15, eröffnet werden konnte. Damals gab es zwei Beraterinnen, heute arbeiten drei Beraterinnen in der Behmstraße 73 und leisten eine anerkannte Arbeit zur Stärkung der Selbstbestimmung und zur Aufklärung von Frauen und Männern.

Aus dem Freidenkerverband wurde 1993 der Humanistische Verband Deutschlands. Motiviert durch den Aufbau der Beratungsstelle gab es in den folgenden Jahren zahlreiche durch die Frauengruppe des Verbandes initiierte frauenpolitische Aktivitäten. Zur Professionalisierung der Frauenarbeit im Verband beantragte die Frauengruppe beim Landesvorstand Anfang der 90er-Jahre die Einrichtung einer Stelle für eine Referentin für Frauenfragen. Im Frühjahr 1994 wurde Brigitta Kasse als erste Frauenreferentin des HVD, LV Berlin eingestellt und unterstützte hauptamtlich die ehrenamtliche Frauengruppenarbeit.

Am 8. März 1994 beteiligten wir uns als Humanistinnen am bundesweiten Frauenstreiktag. Wir organisierten an diesem Tag in der Pappelallee einen offenen Frühstückstreff für Frauen, führten um 13.00 Uhr eine Demonstration durch unter dem Motto "Nun schlägt's 13 - Frauen sagen uns reicht's - gegen Sozialabbau auf den Schultern der Frauen" und anschließend gab es eine Lesung von Dr. Angelika Haas aus Interviews mit Frauen über Brüche in ihren Biographien.

Wenige Tage später, am 16. März 1994, fand die von den Humanistinnen geplante Podiumsdiskussion "Wie weiter mit dem Paragraphen 218?" im Haus der Demokratie, damals in der Friedrichstraße, statt. Zu dieser gut besuchten Veranstaltung luden wir Berliner Politikerinnen aller Parteien des Abgeordnetenhauses sowie Beraterinnen aus Schwangerschaftsberatungsstellen verschiedener Träger ein und führten kontroverse Diskussionen.


Internationale Arbeit

Die Frauenreferentin nahm Kontakt zu den anderen Mitgliedsverbänden der Europäischen Humanistischen Föderation (EHF) auf, um - mit dem Ziel einer europaweiten Vernetzung von Humanistinnen - die Situation von Frauen in anderen Verbänden zu erkunden. Im Frühjahr 1994 nahmen wir auch am internationalen Frauenkongress in Paris teil, auf dem zahlreiche Resolutionen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen, zur Selbstbestimmung von Frauen bei der Geburtenregulation und zu ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit verabschiedet wurden.

Mitte der 90er-Jahre wurden von der Frauengruppe in Zusammenarbeit mit der Frauenreferentin unterschiedlichste Seminare und Veranstaltungen durchgeführt. Zielgruppe waren Mitglieder, Mitarbeiterinnen und weitere interessierte Frauen. Es gab Rhetorikseminare, Seminare zur Selbstverteidigung, zur Körperwahrnehmung sowie zu Entspannungstechniken und zu naturheilkundlichem Wissen, die ebenso gut besucht waren wie die Lesungen mit Diskussion zu frauenspezifischen Themen, z.B.:

- 1994 "Mütter und Töchter" mit Elke Harre und Ines Schmidty
- 1995 "Und nun noch ein Kind?" mit Dagmar Scharsich
- 1996 "Wahrheit und Legende einer umstrittenen Frau - Tina Modotti" mit Christiane Barkhausen.

In Zusammenarbeit mit einer Studentin aus Russland, die in Berlin studierte, entwickelte die Frauengruppe ein binationales Frauenprojekt "BALANS" zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen in Moskau, das durch die EU jedoch leider nicht finanziell gefördert wurde.

Es entstand in dieser Zeit auch die frauenpolitische Veranstaltungsreihe "Aufeinander zugehen - Frauenleben in anderen Ländern und Kulturen", bei der uns die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in ihren Herkunftsländern und in Deutschland interessierten und in deren Rahmen wir auch landestypische Speisen kennen lernen konnten: Im Frühjahr 1996 trafen wir Frauen aus Russland, im Herbst Frauen aus Polen. 1997 fand im Frühjahr ein Gesprächskreis mit Iranerinnen statt und im Herbst befassten wir uns mit dem Leben von Frauen in Gambia. In den folgenden Jahren waren es Frauen aus Vietnam, der Türkei, Ex-Jugoslawien und Afghanistan, die uns eindrucksvoll von ihrem Leben berichteten.


Vielfältige Aktivitäten

Krankheitsbedingt musste die Frauenreferentin Ende 1995 ihre Tätigkeit leider beenden und es wurde vom Landesvorstand die Entscheidung getroffen, die Frauenarbeit künftig wieder nur ehrenamtlich zu leisten. Die Frauengruppe erhält jährlich auf Antrag ein kleines finanzielles Budget für ihre Arbeit. Damit können Gesprächsreihen, frauenpolitische Veranstaltungen und Seminare durchgeführt werden.

Die Angebote nicht nur für Berliner Humanistinnen waren seit Mitte der 90er-Jahre sehr vielfältig. Sie reichten von in Seminarform organisierten persönlichen Begegnungen von Frauen aus dem Ost- und Westteil der Stadt mit Biographiearbeit (1999), über einen Workshop zum kreativen Schreiben (1999) bis hin zu einer von der Frauengruppe initiierten MitarbeiterInnenbefragung im LV Berlin zu Arbeitsbedingungen und Arbeitszufriedenheit.

Beginnend mit dem neuen Jahrtausend stellte sich die ehrenamtlich arbeitende Frauengruppe neuen Fragen und organisierte Veranstaltungen zu Gender Mainstreaming (2000 und 2001) zu Aspekten der Arbeitsmarktpolitik (2000) und zum Humanismus aus weiblicher Sicht. Wir beschäftigten uns mit Frauen, die in ihrer Zeit für Aufklärung, Selbstbestimmung und Chancengleichheit eintraten. In diesem Kontext besuchten wir im März 2000 die Ausstellung "Philosophinnen - Liebhaberinnen der Weisheit", organisierten im März 2001 eine Veranstaltung zu "Helene Stöcker - Frau als Gelehrte, Geliebte und Mutter" und im März 2003 begegnete uns in einem musikalisch- literarischen Programm "Die Utopie der Rosa Luxemburg. Eine Frau zwischen Liebe, Freundschaft und Politik".

Im Jahr 2002 begannen wir mit der frauenpolitischen Veranstaltungsreihe "Humanistinnen gestern und heute", die wir bis heute jährlich mit Seminaren oder Workshops fortsetzen. Dabei geht es uns um das Wirken und Schaffen von aufgeklärten Frauen, die ihrer Zeit voraus waren und sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen einsetzten. Leider fehlen aus früheren Zeiten häufig Aufzeichnungen zum frauenpolitischen Wirken, denn bis 1908 gab es ein Verbot der politischen Betätigung von Frauen in Deutschland. Spärlich vorhandene Dokumente von und über fortschrittliche Frauen aus der Zeit der Aufklärung bis zur Weimarer Republik müssen gesichtet und ausgearbeitet werden. Die Frauengruppe plant diesbezügliche Aktivitäten und ist auf der Suche nach Materialien zum frauenpolitischen Wirken im Verband. Leider wurde auch in der Festschrift 100 Jahre Humanistischer Verband Berlin "Humanismus ist die Zukunft" aus dem Jahr 2006 die Arbeit der Frauengruppe nicht berücksichtigt.


Aktuelle frauenpolitische Themen

Aktuelle Themen wurden von der Frauengruppe immer wieder aufgegriffen und in öffentlichen Veranstaltungen diskutiert. Zum Beispiel beschäftigten wir uns im Oktober 2001 mit dem Thema "Frauen und Krieg - Die aktuelle politische Situation und das Leben von Frauen in Afghanistan und Pakistan nach dem 11. September 2001". Nach einer Frauenveranstaltung organisierten wir eine Spendenaktion im Berliner LV zugunsten von Roma-Kindern in Ex-Jugoslawien. Knapp 4.000 DM wurden dem Verein AMICA Tuzlanska im Dezember 2001 übergeben. Und wir führten in den Jahren 2002 bis 2004 zahlreiche Diskussionsveranstaltungen mit islamischen Frauen durch. Dort ging es z.B. um Frauenrechte, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und um einen weltanschaulichen Dialog zur Rolle des Kopftuchs und anderer religiöser Symbole.

Zu einer guten Tradition sind auch die seit dem Jahr 2002 einmal jährlich stattfindenden Frauen-Wochenendseminare geworden, die für Humanistinnen aus allen Landesverbänden offen sind. Wir beschäftigten uns in den Seminaren in Form des Sokratischen Gesprächs mit Begriffen wie Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Toleranz. In diesen Seminaren können Humanistinnen die philosophische Methode des Sokratischen Gesprächs kennen lernen und praktisch erproben und sich dabei durch klarere Begriffsbestimmungen für weltanschauliche Auseinandersetzungen stärken. Ein erfreulicher Nebeneffekt ist, dass sich Humanistinnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen und Bundesländern in diesen Frauenseminaren persönlich begegnen und gemeinsam neue frauenpolitische Ideen entwickeln.

Anlässlich der Matinee für Ehrenamtliche am 10. Dezember 2006 wurde Wiebke Berking für ihr jahrelanges frauenpolitisches Wirken innerhalb und außerhalb des HVD, LV Berlin e.V. mit dem Berliner Freiwilligenpass ausgezeichnet. Leider konnte sie wegen ihrer Erkrankung den Preis dort nicht persönlich entgegennehmen, weshalb Vertreterinnen der Frauengruppe ihr den Dank und die Auszeichnung im Krankenhaus übergaben. Sie war überrascht und hat sich über diese Auszeichnung sehr gefreut. Ihr Tod am Neujahrstag 2007 hinterlässt eine Lücke in der Frauengruppe.

Alle Treffen und Veranstaltungen der Frauengruppe sind grundsätzlich für Interessentinnen offen, Ideen und aktive Mitarbeit sind erwünscht.

Kontakt:
Ines Scheibe, Tel. 030-44 17 992 oder
E-mail: ipscheibe@arcor.de


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 78/2007, S. 13-15
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. Oktober und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 12,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2007