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BUCHBESPRECHUNG/0003: Werfels Lied vom Leiden (Ingolf Bossenz)


Werfels Lied vom Leiden

Vor 130 Jahren starb Bernadette, die Seherin von Lourdes

Von Ingolf Bossenz


Genau in dem Augenblick, da der letzte Atemzug vollendet ist, bekommt sie das Antlitz ihrer Verzückungen wieder, als sie durch alle Gesichter und Gegenstände der Welt hindurch der Dame verbunden blieb, die sie schaute.« So beschreibt der Dichter Franz Werfel (1890-1945) in seinem Roman »Das Lied von Bernadette« den Tod von Bernadette Soubirous. Die »Seherin von Lourdes« starb am 16. April 1879 im Kloster Saint Gildard der Barmherzigen Schwestern in der mittelfranzösischen Stadt Nevers. Sie wurde nur 35 Jahre alt.

Die »Dame« war der in ärmsten Verhältnissen aufgewachsenen Müllerstochter 21 Jahre zuvor, am 11. Februar 1858, in Lourdes bei der Grotte Massabielle zu ersten Mal erschienen. 17-mal kam sie wieder und machte mit ihrem Mythos aus dem Städtchen am Fuße der Pyrenäen einen der weltgrößten Wallfahrtsorte, in dem heute auf die 15 000 Einwohner jährlich bis zu sechs Millionen Pilger kommen. Im vorigen Jahr, dem 150-jährigen Jubiläum der Marienerscheinungen, sollen es über acht Millionen gewesen sein. Es sind vor allem Kranke, die an der von Bernadette entdeckten Quelle auf Heilung hoffen, auf »Wunder«, von denen die katholische Kirche bislang allerdings lediglich 67 offiziell anerkannt hat.

An der Aufrichtigkeit und an der subjektiven »Realität« der Visionen von Bernadette Soubirous hat niemand je ernsthaft gezweifelt. Auch Émile Zola (1840-1902) nicht. Der Schöpfer der 20-bändigen Romanfolge »Die Rougon-Macquart« veröffentlichte 1894 den Roman »Lourdes«, in dem er eine »pèlerinage nationale«, eine nationale Pilgerfahrt beschreibt und in seiner Kritik am klerikal-kommerziellen und nationalistisch-chauvinistischen Rummel um Lourdes das Schicksal der Seherin lebendig werden lässt.

Doch im Hinblick auf das Setzen eines literarischen Denkmals für Bernadette Soubirous wurde Zola von seinem österreichischen Schriftstellerkollegen Werfel übertroffen, der zudem versicherte: »Nur dort wurde das Recht der dichterischen Freiheit in Anspruch genommen, wo das Kunstwerk gewisse chronologische Zusammendrängungen erforderte, und wo es galt, den Lebensfunken aus dem Stoff zu schlagen.«

Werfel gelang es, nicht nur »den Lebensfunken aus dem Stoff zu schlagen«, sondern mit diesem ein literarisches Feuer zu entzünden, das religiöse wie areligiöse Leser mit tiefer Wärme zu erfüllen vermag. Dies hängt zweifellos mit der Bedeutung zusammen, die der Pyrenäenort im Leben des Dichters spielte. Der Jude Franz Werfel, der gemeinsam mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel und neben anderen Schriftstellerkollegen wie Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch und Arthur Koestler vor den Nazis in Frankreich Sicherheit gesucht hatte, wurde nach Hitlers Einfall dort erneut zur Flucht gezwungen. Vor der Überquerung der Pyrenäen sammelten die Werfels im Sommer 1940 fünf Wochen lang Kraft in Lourdes, das in dem von den Deutschen noch unbesetzten Süden des Landes lag. Dort legte der Dichter das Gelübde ab, sollte er »die rettende Küste Amerikas erreichen«, wolle er »als Erstes vor jeder andern Arbeit das Lied von Bernadette singen, so gut ich es kann«.

Auch wenn Thomas Mann die Nase rümpfte über die »Heiligenbildchen-Legende« (wie später der »Spiegel« einmal das 1941 erschienene Werk nannte) - Werfel landete einen der größten Erfolge in der US-amerikanischen Verlagsgeschichte. Innerhalb eines Monats wurde das Buch zum »National Bestseller Number One«. Zur Steigerung der Truppenmoral kaufte sogar die US-Armee 50.000 Exemplare für ihre Soldaten. Die Hollywood-Verfilmung mit Jennifer Jones in der Hauptrolle im Jahr 1943 geriet gleichfalls zum Welterfolg.

Das südwestfranzösische Lourdes mit seinem nie abreißenden Pilgerstrom, mit dem Marathon der Massen und Messen, den 220 Supermärkten voll religiösen Kitsches und den über 230 Hotels mit insgesamt 28.000 Betten - es bildet den entschiedenen Gegensatz zum Schicksal der unscheinbaren, ungebildeten, von Entsagung und Krankheit gezeichneten Bernadette Soubirous, die trotz Verfolgung, Verhöhnung, Schmähung, endloser Verhöre durch Obrig- und Geistlichkeit an ihren Erscheinungen festhielt, bis diese zur Basis einer die Kirche ebenso wie das Kapital stärkenden Wunderindustrie wurden. Bernadette selbst trat mit 22 Jahren ins Kloster zu Nevers ein und nahm den Namen Schwester Marie-Bernard an.

Eine der eindrucksvollsten Szenen in Werfels »Lied« ist wohl jene, in der Bernadette im Kloster Nevers Besuch aus ihrer Heimatstadt erhält und der Abgesandte des Bürgermeisters ins Schwärmen gerät: »Schade, dass Sie das neue Lourdes nicht mehr kennen, ma Soeur, Herrgott, Sie würden erstaunt sein. Es gibt jetzt bei uns lauter große Geschäfte, wo man die Figur der Allerseligsten Jungfrau zu kaufen bekommt und Kerzen für die Bilder und Trinkbecher für die Quelle und Rosenkränze in allen Größen und Ihr Bild, ma Soeur. Und Ihr Bild, ma Soeur, kann man schon für zwei Sous haben ...« »Mehr bin ich auch nicht wert«, sagt Bernadette kurz.

Gewiss hatte Werfel einen tief sitzenden Hang zu katholizistischer Schwärmerei, was ihm wohl auch den auf Wunsch seiner Frau erfolgten Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft erleichterte. Dennoch ist »Das Lied von Bernadette« kein katholischer Roman. Es ist ein Roman des Mitleids, »jener wahren Menschheitsreligion für die vielen Leiden, die vielen Tränen, die den Menschen in seiner Schwachheit und Schutzlosigkeit auffressen«. Das schreibt Émile Zola in seinem Lourdes-Buch über den Priester Pierre Froment. Und dieser Satz des Atheisten Zola nimmt in erstaunlicher Präzision die potenzielle Wirkung des 47 Jahre später erschienenen »Liedes« des Gläubigen Werfel auf seine Leser vorweg.

Werfels Werk ist vor allem deshalb kein katholischer Roman, weil er gerade die Vereinnahmung des Religiösen durch die Kirche, die keine andere Deutungshoheit neben sich duldet, als ebenso widerwärtig in ihren Mitteln wie verheerend in ihren Folgen darstellt. Das Religiöse kommt bei Werfel nicht von den Institutionen, den Schriften oder den Heiligen, sondern vom Menschen selbst.

Hyacinthe de Lafite, ein auf seinen Skeptizismus und Atheismus stolzer Intellektueller, bekennt am Ende des Buches, als er in höchster Not Beistand sucht: »Es gibt keine Bekehrung zum Glauben, es gibt nur eine Rückkehr in ihn. Denn er ist keine Funktion der Seele, sondern diese Seele selbst in ihrer letzten Nacktheit.«

Bernadette Soubirous kam nach ihrem Eintritt ins Kloster nie mehr nach Lourdes. Im Dezember 1933 wurde sie von der katholischen Kirche heiliggesprochen.


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Quelle:
Ingolf Bossenz, April 2009
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 16.04.2009


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2009