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POLITIK/0001: Kein Heil ohne Hahne (Ingolf Bossenz)


Kein Heil ohne Hahne

Von Ingolf Bossenz


Kirchen sind keine Lobby-Organisationen. Eine derart profane Zuordnung bleibt den Glaubenskonzernen erspart. In das vom Verfassungsausschuss des EU-Parlaments beschlossene Register für besonders aktive Lobbyisten werden sie nicht aufgenommen. Eine verständliche Entscheidung. Zwar würde die unverhohlene Einmischung der Kirchen auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Lebens der Union und ihrer Mitgliedstaaten einen solchen Eintrag mehr als rechtfertigen. Aber in Erinnerung an das jahrelange Gerangel um einen (letztendlich gescheiterten) Bezug auf Gott und/oder das christliche Erbe Europas im EU-Verfassungsentwurf und im nachfolgenden Lissabonner Reformvertrag hatten die Brüsseler Eurokraten offenbar wenig Lust auf neue Auseinandersetzungen. Was angesichts der kirchlich-religiösen Gegenaufklärung auf dem Kontinent nicht gerade Anlass zur Hoffnung gibt.

Vor wenigen Tagen erst hat der von der anglikanischen zur römisch-katholischen Kirche konvertierte Tony Blair eine sogenannte Glaubensstiftung ins Leben gerufen. Der britische Expremier verlangt nicht weniger als "eine zentrale Rolle" für den Glauben in der internationalen Politik. "Glaube und Vernunft", so Blair, stünden nicht im Widerspruch zueinander. Das ist immerhin noch differenzierter formuliert, als man es in einer gemeinsamen Erklärung des Vatikans und iranischer Theologen findet, die den Glauben strikt über die Vernunft stellt.

Auch in Deutschland muss endlich "Schluss mit lustig" sein, wie ein Buchtitel des ZDF-Journalisten und evangelischen Laienpredigers Peter Hahne lautet. Hahne forderte jetzt eine "große Koalition der Evangelisierung" der beiden christlichen Großkirchen. Wer anders als die Kirche könne auf Grundlage des Evangeliums sagen, was gut und was böse sei, verkündigte Hahne apodiktisch.

Diese Erleuchtung wird auch den Vatikan freuen, der schließlich seit Jahrhunderten behauptet: "Extra ecclesiam nulla salus" - Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Bei einer solchen "großen Koalition der Evangelisierung" darf natürlich der Kölner Kardinal Joachim Meisner nicht fehlen, der dazu in dieser Woche eine besonders originelle europapolitische Idee äußerte. Im türkischen Tarsus, dem Geburtsort des Apostels Paulus, sollten eine christliche Kirche und ein Pilgerzentrum gebaut werden. Damit erfüllt Meisner bereits perfekt den katholischen Anspruch, dass Glaube den Vorrang vor Vernunft haben müsse. Übertroffen wird dies nur noch durch seine Begründung: "Nach menschlichem Ermessen gäbe es ohne Paulus keine Weltkirche, kein christliches Europa, keine Menschenrechte und damit keine Vereinten Nationen."

Ohne Paulus keine UNO. Wer eine solche Kausalkette konstruiert, sollte auch erklären, weshalb die wesentlichen Rechte, die heute in demokratischen Staaten als selbstverständlich gelten, gegen den jahrhundertelangen, erbitterten Widerstand der Kirche erkämpft werden mussten. Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit der Wissenschaft, Gewaltenteilung - weder der Erfinder des Christentums, Paulus, noch die sich auf ihn berufenden Kirchen können dafür auch nur die Spur einer Urheberschaft beanspruchen. Dass der Vatikan als einziger Staat des Kontinents bislang nicht der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten ist, muss angesichts dieser historischen Tatsachen als konsequent bezeichnet werden.


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juni 2008
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 13.06.2008
Kolumne "Brüsseler Spitzen"


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2008