"Islamischer Staat" - eine Herausforderung zur geistigen Erneuerung
Von Kai Ehlers, 4. April 2016
Eine Herausforderung ist die Frage nach dem Charakter und der Rolle des "IS" selbstverständlich schon deshalb, weil sie kaum einzugrenzen ist. Zu viele Worte lassen eher noch mehr Verwirrung entstehen als die Realität des "IS" selbst. Skizziert seien hier daher nur einige Hauptpunkte, die für eine eingehende Klärung unerlässlich sind.
Also zum Thema:
Der heutige Terrorismus ist selbstverständlich nicht mit Bomben aus
der Welt zu schaffen. Bomben gegen den "Islamischen Staat" können den
"IS" als ein Symptom des Terrorismus eindämmen; zur Wurzel des
Phänomens dringen sie nicht vor. Erforderlich ist eine vorurteilslose
Diagnose, eine Differenzierung der Spuren, die im Terrorismus
zusammenkommen. Monokausale Begründungen müssen vermieden werden, um
auf diese Weise vielleicht zu einer - ebenfalls zu differenzierenden
- globalen Therapie dieses Übels zu kommen.
1. Die islamische Spur:
Auch wenn klar ist, dass "Islamischer Staat" und Islam nicht identisch
sind, selbst wenn klar ist, dass es den Islam nicht gibt,
sondern diverse Konfessionen im Lauf der Geschichte ebenso wie heute,
muss doch genau hingehört werden, wie der "IS" sich aus dem Koran
herleitet. Dazu dürfte es angebracht sein, den Koran in einer
authentischen Übersetzung selbst einmal anzuschauen und sich die
Begründungen sowohl der "IS"-Ideologen wie auch der aus dem Islam
kommenden und der zugelaufenen Mitglieder anzuhören - und ihre Motive
ernst zu nehmen, statt sie ängstlich beiseite zu schieben. Aus dieser
Wahrnehmung sticht - abgesehen von allen Unstimmigkeiten und brutalen
Verkürzungen - zumindest ein Stichwort als besonders bemerkenswert
hervor, das nahezu in jeder Sure des Korans auftaucht - gleich, wie es
dann interpretiert wird, nämlich: der Koran versteht sich als letzte
Warnung, zur Offenbarung des wahren, des einen Gottes
zurückzukehren, dessen Botschaft durch Judentum und Christentum
verfälscht, vergessen und verraten worden sei. Er ist der
apokalyptische Zeigefinger: Wer die Warnung nicht hören will, fällt
der ewigen Verdammnis anheim. - Die Dogmatisierung dieses Zeigefingers
führt unmittelbar in den "IS".
2. Die koloniale Spur:
Zweifellos resultiert aus der Geschichte eine vielfache
anti-kolonialistische, anti-europäische Dynamik, die sich in mehreren
historischen Schüben aufgebaut hat: Der Untergang des ersten großen
Muslimischen Kulturraums im Mongolensturm des 12. Jahrhunderts,
während Europa zur gleichen Zeit aufstieg. Die darauf folgende
Konkurrenz Europas mit dem als Osmanisches Reich wiedererstandenen
zweiten muslimischen Kulturraum, die mit der Kolonisierung eines
zurückbleibenden Osmanischen Reiches, ja mit dessen Auflösung und
Besetzung nach dem ersten Weltkrieg endete. Die neokoloniale Phase
nach dem zweiten Weltkrieg, in dem die muslimische Welt
Ausbeutungsobjekt unter der Vorherrschaft des westlichen Imperialismus
wurde - und sich jetzt davon befreien möchte, müsste, sollte,
könnte... Die Erinnerung an einstige Größe und Erniedrigung bringt
starke Kräfte der Rückbesinnung hervor, die sich in einer
widersprüchlichen Haltung zur "Modernisierung" outen.
3. Die Spur der "Überflüssigen":
Heute leben auf dem Globus ca. acht Milliarden Menschen, 2020 könnten
es nach übereinstimmenden Schätzungen neun bis zehn Milliarden sein.
Zwar flacht sich die absolute Zunahme der Weltbevölkerung ab,
dafür hat sich eine Disproportion zwischen einer rasant weiter
anwachsenden Bevölkerungszahl im globalen Süden und den alternden
nördlichen Industriestaaten herausgebildet. Das hat zu einem
überproportional anwachsenden Teil junger Menschen in diesen Ländern
geführt, während die Bevölkerungszahlen der Industriestaaten
schrumpfen. Diese jungen Menschen drängen, wenn sie auf Grund der
neokolonialen Zerstörung der örtlichen Wirtschaften keinen Ort der
Verwirklichung in ihren Ländern finden und nicht aufgehalten werden,
notwendigerweise nach Norden. Zusammen mit den auch in den alten
Industrieländern selbst durch die Automatisierung aus ihren
Arbeitsplätzen verdrängten Menschen sammelt sich ein zusammengesetztes
Prekariat "Überflüssiger", an den Rand Gedrängter, die in der
herrschenden Welt- und Gesellschaftsordnung keinen Platz mehr für sich
finden - außer wenn diese Gesellschaft gesprengt, zerstört, geöffnet
wird.
4. Die geistige Krise:
Der Zusammenbruch der sozialistischen Utopie(n) und die Unfähigkeit
der darauf folgenden globalen Kapitalisierung zu neuer Sinnstiftung
haben eine geistige Heimatlosigkeit hinterlassen, die nach neuer
Ganzheitlichkeit verlangt, es wächst die Angst vor dem Clash, vor der
Apokalypse etc. Der Islam könnte eine solche neue Ganzheitlichkeit in
seiner Form des alles umgreifenden EINEN anbieten. Der dogmatische
Islamismus verengt das Einheitsangebot des Islam jedoch auf die
Grenzen von Auserwählten, die sich durch die Zerstörung der aus ihrer
Sicht nicht mehr zu rettenden Welt zu retten versuchen, indem sie die
Apokalypse für sich selbst inszenieren - statt sich in die
übergreifende, die Grenzen des Monotheismus, auch des muslimischen,
überschreitende geistige Entwicklung zu stellen, die alle
weltanschaulichen, religiösen und spirituellen Impulse unserer
heutigen Welt in einen offenen, lebendigen, kosmologischen
Zusammenhang bringt.
Hier beginnt das Hören, Sehen, Erleben neuer Zusammenhänge von Wissen und Glauben, die über monotheistische, vor- und außermonotheistische Weltsichten hinausgehen, beginnt das Nachdenken über deren möglichen zukünftigen gesellschaftspolitischen und sozialen Ausdruck selbstverständlich erst. Dies soll und muss aber an dieser Stelle so offen bleiben - und dies nicht nur aus Platzgründen, sondern weil es offen ist und offen bleiben muss, da es nur als Prozess des Erkennens und Bemühens verstanden werden kann. Nur aus einem erneuerten Geist, der die Welt in ihrer materiellen und geistigen Vielgestaltigkeit sieht, können lebensfördernde Lösungen für die oben genannten Spuren gefunden werden. Das ist sicher.
Eine notwendige Erinnerung:
Nicht vergessen werden darf selbstverständlich - wenn auch dies bitte
nicht monokausal zu verstehen ist - dass der "IS" sowie verwandte
Terrortruppen ein unmittelbares Produkt westlicher, von den USA
ausgehender globaler Politik sind. Sie werden benutzt die Welt durch
Fragmentierung und Schüren von allgemeiner Unsicherheit für die
US-Hegemonie beherrschbar zu halten.
Kai Ehlers ist Osteuropa-Experte, Autor und
Journalist.
www.kai-ehlers.de
Zur Vertiefung auf www.kai-ehlers.de:
- Kai Ehlers, "Die Kraft der 'Überflüssigen'", Pahl-Rugenstein Vlg.
- Zum Islam: Themenheft "Modell Kasan", außerdem Texte: "Modell Kasan."
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Quelle:
© 2016 by Kai Ehlers
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2016
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