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VEGETARIERBUND/365: Eine kurze Geschichte der vegetarischen Bewegung (natürlich vegetarisch)


natürlich vegetarisch 01/11 - Winter 2010/2011
Das VEBU Magazin

Zwischen Macht und Moral
Eine kurze Geschichte der vegetarischen Bewegung

Von Daniela Tannebaum


Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es sich beim Vegetarismus um eine Modeerscheinung handelt, um eine Erfindung des modernen Menschen. Die Wenigsten fragen noch danach, ob es für den Menschen natürlich ist, Fleisch zu essen. Sie halten es für selbstverständlich. Doch jene Gedanken, jene Gründe, aus denen heraus sich die heutigen Vegetarier/innen zu einer fleischlosen Ernährung entschließen, beschäftigen die Menschen seit jeher: Die Frage, ob Tiere zum Essen da seien oder nicht, ist so alt wie die Menschheit selbst. Modern sind nur Terminierung und Definition. Ob aus Respekt gegenüber dem Tier oder aus Sorge um die Gesundheit, der Vegetarismus in seiner heutigen Form ist das Ergebnis einer langwierigen Entwicklung; und diese Entwicklung zeigt, dass es vielerlei Richtungen gibt, die zum Vegetarismus führen.

Die Urmenschen waren zwar keine reinen Vegetarier/innen, doch Tierfleisch war damals auch noch kein etabliertes - und vor allem selbstverständliches - Nahrungsmittel. Sie waren weniger Jäger als Aasfresser. Erst der Homo Erectus (eine Vorform des Neandertalers) begann, Tiere gezielt zu jagen und zu töten, um sich von ihrem Fleisch zu ernähren. Der Mensch musste erst sesshaft werden, das Grübeln und die Landwirtschaft entdecken - und damit die Voraussetzung für den Vegetarismus schaffen -, ehe er der Frage nachgehen konnte, ob es einen Grund gibt, dass er Tierfleisch roh nicht verträgt. Die Frage nach der richtigen Ernährung ist wie die Frage nach dem menschlichen Dasein seit jeher mit religiösen Anschauungen verknüpft.

Betrachtet man heute die Speisekarte eines griechischen Restaurants, mag man kaum glauben, dass Griechenland zu den Wegbereitern des Vegetarismus gehört. Doch in der Antike standen Fleischmahlzeiten nicht täglich auf dem Speiseplan. Die frühen Landwirte ernährten sich überwiegend von Pflanzen, Getreide und Gemüse, gelegentlich auch von Fisch. Das Töten von Tieren geschah hauptsächlich im Zusammenhang mit Opferritualen. Ein Tier wurde getötet, den Göttern dargebracht und anschließend in festlichem Rahmen gemeinschaftlich verzehrt. Solcherlei Rituale waren stets öffentlich und somit von großer sozialer Bedeutung. Wer sich damals gegen die Tötung von Tieren stellte, grenzte sich sozusagen selbst aus der Gemeinschaft aus. So ist es kaum verwunderlich, dass es weniger Einzelpersonen waren, die für eine fleischfreie Ernährung einstanden, dass sich vielmehr Gruppen bildeten, die gemeinsam eine vegetarische Lebensweise praktizierten. Die ersten Menschen, von denen wir wissen, dass sie sich bewusst fleischlos ernährten, waren Seher und Priester aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., beispielsweise die Orphiker. Sie glaubten, der Mensch sei göttlichen Ursprungs und könne nur durch Reinigung der Seele von einer früheren Schuld befreit werden und zu innerem Frieden gelangen. Sie verzichteten auf das Töten und Essen von Tieren, so auch auf Tieropfer. In Indien, das Land, in dem noch heute die meisten Vegetarier/innen leben und in dem Vegetarismus einen grundlegenden Bestandteil der Religion darstellt, gilt Buddha als Begründer dieser Lebensweise. Doch als Urvater des Vegetarismus bezeichnet man bis heute einen seiner Zeitgenossen, Pythagoras - einen Mann, der zu Lebzeiten gottähnlichen Status genoss. Man mag sich heute darüber streiten, ob Pythagoras tatsächlich selbst auf Fleisch verzichtete, doch sicher ist, dass er den Vegetarismus in die Diskussion brachte und sein Einfluss über Platon bis hin zu Kant wirkte. Er sammelte eine Gemeinschaft von Anhängern um sich, die ihm in ihrer Lebensweise folgten. Er glaubte wie die Orphiker daran, dass die menschliche Seele gereinigt werden müsse. Darüber hinaus hielt er Fleischessen für gesundheitsschädigend und freundliches Verhalten gegenüber Tieren für eine gute Übung zu Menschlichkeit.

Gemeinsam ist Pythagoras und den Orphikern der Glaube an Seelenwanderung - in der Antike keine Seltenheit -, und somit an die Unsterblichkeit der Seele. Stirbt ein Mensch, wird seine Seele wiedergeboren, als Mensch, oder Pythagoras zufolge, auch als Tier. Demnach war das Täten und Essen von Tieren wie das Töten und Essen von Freunden oder Verwandten. Die einzige Möglichkeit, dem ewigen Wiedergeborenwerden zu entkommen, war eine strenge, fromme Lebensweise, und dazu gehörte eine vegetarische Ernährung. Die Vorstellung von einem paradiesischen Urzustand, in dem Mensch und Tier gemeinsam nebeneinander, ja miteinander lebten, taucht nicht nur in der Bibel auf: Vor allem Platon war ein Vertreter dieses Mythos und predigte von einer Zeit, in der Mensch und Tier in Harmonie miteinander lebten und voneinander lernten, in der es weder Krieg noch Hunger gab. Erst als Gott Menschen und Tiere sich selbst überließ, entfernten sie sich zunehmend voneinander. In "Der Staat" schildert Platon, wie der Mensch begann, sich nicht länger mit dem Notwendigen zufrieden zu geben und in punkto Nahrung erstmals Tierfleisch mit einschloss; wie er Tiere zu jagen begann und, wenn er kein Tier mehr fand, das er töten und verzehren konnte, seine Nachbarn bekämpfte, um sich deren Land und deren Tiere zu eigen zu machen. Erstmals taucht der Gedanke auf, den Rousseau später aufgreifen und zur Grundlage seiner Philosophie machen wird: Die Zivilisation ist aller Laster Anfang. Sowohl Platon als auch Rousseau stellen eine ländliche, vegetarische Lebensweise als Ideal dar, das der Mensch verloren hat.

Die immer wiederkehrende Frage, ob man nun Tiere essen dürfe oder nicht, brachte nicht nur Befürworter des Vegetarismus mit sich. Wo immer ein Argument für den Verzicht auf Tierfleisch auftauchte, folgte sogleich eines; das den Verzehr rechtfertigte. Aristoteles beispielsweise vertrat die Auffassung, dass die Pflanzen den Tieren als Nahrung dienten und die Tiere wiederum den Menschen. Er sprach Pflanzen und Tiere jegliche Vernunft ab, weshalb man sie bedenkenlos je nach Bedarf benutzen könne. Herakleides von Pontos brachte das am häufigsten verwendete und wohl auch beliebteste Argument der Vegetarismusgegner auf den Tisch, das sich auch bei den Stolkern, Epikureern und Skeptikern finden lässt: Wenn man keine Tiere essen darf, darf man auch keine Pflanzen essen. Wer keine Tiere töten will, darf auch keine Milch trinken und keine Eier essen. Außerdem, so sagte er, würden die Tiere irgendwann Oberhand und dem Menschen alle Nahrung nehmen. Das Essen von Tierfleisch sei also reine Selbstverteidigung.

Das Christentum ist nicht gerade als großer Verfechter der vegetarischen Idee bekannt. Doch wenn man auf seine Anfänge zurückblickt, begegnet einem doch der eine oder andere vegetarisch lebende Mensch, so beispielsweise Jakob, der Halbbruder Jesu, oder der Apostel Petrus. Unter den christlichen Heiligen herrschte Uneinigkeit hinsichtlich einer dem Glauben angemessenen Ernährung. Betrachteten die einen die Tiere als Schöpfung Gottes, die es zu achten galt wie den Menschen und Gott selbst, begründeten die anderen Fleischgenuss damit, dass Gott ihnen die Tiere als Nahrung und Nutzen erschaffen habe. Vor allem Paulus, der Jesus nie persönlich begegnet war, vertrat diese Auffassung. Sich auf die Bibel zu berufen, erweist sich in dieser Debatte als schwierig, denn in Bezug auf das Mensch-Tier-Verhältnis birgt sie einiges an Widersprüchen. Einige Stellen verbieten den Verzehr von Tierfleisch, andere befürworten ihn. So heißt es in der Genesis einmal, dass der Mensch sich die Erde und alles auf ihr Lebende Untertan machen solle, und ein anderes Mal, dass ihm die Pflanzen als Nahrung und die Tiere als Gefährten dienen sollen. Jesus selbst hat nicht nur Brot, sondern auch Fisch geteilt, und seine Jünger sollen Fischer gewesen sein. Wenn man aber nun bedenkt. dass der römische Kaiser Konstantin, als er sich entschloss, die christliche Religion zur Staatsreligion zu erklären, sämtliche heiligen Schriften seinen Wünschen entsprechend "korrigieren" ließ, wir also gar nicht mehr die ursprüngliche Fassung vorliegen haben, und dass die Bibel allgemein kein historisches Dokument darstellt, sondern vielmehr von symbolischem Charakter ist, sollte nicht alles zu wörtlich genommen werden.

Zunächst dominierte die christliche Auffassung des Menschen als Abbild Gottes, das über alles Leben herrschte, und dass Tiere weder Vernunft besitzen noch eine unsterbliche Seele. Für seine Tierfreundlichkeit ist das Mittelalter nicht gerade bekannt, wohl aber für seinen fleischhaltigen Speiseplan. Denn Fleisch war schon sehr früh zum Symbol für Wohlstand und Macht geworden, und im Laufe des Mittelalters konnten es sich immer mehr Menschen leisten, zumindest hin- und wieder das hoch angesehene Fleisch zu essen. Für das gemeine Volk freilich kam Fleisch nur selten auf den Tisch: Tiere waren lebendig wesentlich wertvoller als tot, konnten Eier legen, Lasten ziehen oder Milch geben. Geschlachtet wurde nur im äußersten Notfall, wenn zum Beispiel ein harter Winter bevorstand und nicht alle Tiere durchgefüttert werden konnten.

Erst der Beginn der Neuzeit brachte die Frage, ob man Tierfleisch essen dürfe oder nicht, erneut auf den Tisch, und diesmal mit lauteren Stimmen. Die Renaissance wurde nicht nur zur Wiedergeburt antiker Kunst. Die Menschen begannen, die christlichen Dogmen in Frage zu stellen und sich mehr auf das Leben im Diesseits zu konzentrieren. So tauchten auch die antiken Gedanken zum Vegetarismus wieder auf. Michael de Montaigne kritisierte die hochmütige Haltung des Menschen, sich selbst als Abbild Gottes zu bezeichnen und den Tieren im selben Atemzug Vernunft abzusprechen. Der Mensch dürfe sich nicht wundern, sagte er, wenn ihn die Tiere nicht verstanden, verstand er sie doch auch nicht. Im Laufe des 16. Jahrhunderts gelangten immer mehr Mediziner zu der Überzeugung, dass eine vegetarische Ernährung gesünder sei als eine omnivore, was im 18. Jahrhundert in der Naturheilbewegung mit Rousseau als Hauptvertreter gipfelte. Er stellte Natur und Zivilisation gegenüber und kritisierte die Verkommenheit des Menschen, seit er der Natur den Rücken gekehrt habe. Mäßigkeit sei gesund, Müßigkeit lasterhaft. Die Argumente dieser Bewegung waren nicht neu, doch dieses Mal nachhaltiger und wirkten noch weit ins 19. Jahrhundert hinein.

Der Pietismus ging einen Schritt weiter und appellierte an das Mitgefühl des Menschen, indem er auf die Leidensfähigkeit der Tiere verwies. Jeremy Bentham argumentierte mit eben dieser Empfindungsfähigkeit, um Tiere in die Moral einzubeziehen. Somit befand sich nicht nur die Motivation, vegetarisch zu leben, im Wandel, das Tier an sich und wie man sich ihm gegenüber verhalten sollte, rückte näher in den Fokus. Durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert wurde das Tier in seiner Funktion als Nutztier durch Maschinen abgelöst. Durch die sich etablierende Mittelschicht fanden der Vegetarismus und die Situation des Tieres mehr und mehr Eingang in die Öffentlichkeit. Es waren nicht länger nur gesundheitliche oder religiöse Gründe, die den Menschen davon abhielten, Tiere zu töten und zu essen, sondern auch rechtliche. Das Tier sollte um seiner selbst willen leben dürfen. Aus Einzelpersonen wurden Gemeinschaften, so dass nach und nach die ersten Tierschutzvereine und Vegetarier/innenverbände gegründet wurden, beispielsweise die Vegetarian Society 1847 und 1892 der Deutsche Vegetarierbund, dessen Mitgliederzeitschrift Sie gerade lesen. Der Begriff "vegetarian" taucht erstmals 1839 auf und findet im Laufe des Jahrhunderts auch in andere Sprachen Eingang. Aus dem "Vegetarianer" des 19. Jahrhunderts wird im 20. Jahrhundert der "Vegetarier" und schließlich der "Veganer".

Während der beiden Weltkriege wurde es still um die Vegetarismus/Tierrechts-Debatte, doch bedeutete dies noch lange nicht ihr Ende. Heute ist sie wieder in vollem Gange - und solange der Mensch Nahrung braucht, um zu leben, wird die Frage, ob man Tiere essen dürfe oder nicht, in der Diskussion bleiben. Fleisch ist heute längst nicht mehr Symbol für Wohlstand, aber für Kraft und Macht. Doch wie die Geschichte des Menschen immer wieder zeigt, müssen Machtlose nicht ewig machtlos bleiben. Egal aus welchem Grund man sich für den Vegetarismus und gegen die Ausbeutung der Tiere entscheidet, solange der Mensch die Stummen überhört, werden sich Stimmen finden, die für sie sprechen - und so wird die Geschichte weitergehen.


Weiterführende Literatur:

Linnemann, Manuela; Schorcht, Claudia (Hg.): Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Erlangen: Harald Fischer Verlag 2001.

Spencer, Colin:
The Heretic's Feast: A history of Vegetarianism.
London: Fourth Estate 1993.

Teuteberg, Hans-Jürgen:
Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus.
In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994) S. 33-65.


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Quelle:
natürlich vegetarisch 01/11 - Winter 2010/2011, S. 20-22
62. Jahrgang
Vegetarierbund Deutschland e.V. (VEBU)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2011