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GESCHICHTLICHES/005: Mailands Bella Donna feiert Geburtstag (Gerhard Feldbauer)


Mailands Bella Donna feiert Geburtstag

Der legendäre Alfa Romeo Giulia wird 50

Ein Blick in ein interessantes Kapitel italienischer Automobilgeschichte

Von Gerhard Feldbauer, 22. Juni 2012



Vor 50 Jahren, in Sommer 1962, wurde in Monza der Urahn aller sportlichen Limousinen vorgestellt. Der damals für die Präsentation gewählte Ort war kein Zufall. Als Alfa Romeo im Sommer 1962 auf die Rennstrecke im königlichen Park zu Monza einlud, hatte es sich bereits herumgesprochen, dass es um ein ganz besonderes Automobil gehen würde. Die Giulia 1600 TI, die in der Formel-1-erprobten Boxengasse zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurde, begründete damals tatsächlich ein völlig neues Segment. Eine Kreuzung aus Mittelklasselimousine und Sportwagen. Mit für die Zeit beeindruckenden 92 PS, war die Dame Giulia leistungsmäßig auf dem Niveau eines Porsche 356. Mit vier Türen und Platz für bis zu sechs Personen - auf zwei durchgehenden Sitzbänken vorn und hinten. Es sollte mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis andere Hersteller sich an dieses Konzept heran wagen würden.

Tatsächlich hatte der neue Alfa Romeo einen Motor unter der Haube, dessen Wurzeln im Motorsport lagen. Block und Zylinderkopf waren in Aluminium gegossen. Zwei obenliegende, von einer Doppelkette angetriebene Nockenwellen steuerten die Ventile. Ein Doppelvergaser sorgte für ein heiser röchelndes Ansauggeräusch, das nicht nur den Alfisti südlich der Alpen eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Der Leichtmetallmotor übertrug seine Kraft per Fünfganggetriebe auf die Hinterachse. Auch mit der Höchstgeschwindigkeit von 169 km/h setzte die Giulia 1600 TI neue Maßstäbe im Limousinenumfeld.

© Fiat Group Automobiles Germany AG

Alfa Romeo Giulia 1600 GTC Cabriolet (1964-1966)
© Fiat Group Automobiles Germany AG


Die Karosserie war ein Novum im Serienfahrzeugbau

Verantwortlich dafür war auch die im Windkanal optimierte Karosserie, ein Novum im Serienfahrzeugbau. Wie clever die Aerodynamiker ans Werk gingen, um der auf den ersten Blick gar nicht so windschnittigen Karosserie einen möglichst geringen Luftwiderstand zu verpassen, zeigte das Heck. Der Kofferraum bildete mit einer breiten Sicke ein so genanntes Kamm-Heck, benannt nach dem Aerodynamik-Pionier Wunibald Kamm. Der Cw-Wert von 0,34 ist 1962 war Sensation, Alfa Romeo warb mit dem Slogan "Vom Wind modelliert".

Da Kamm-Heck nicht wirklich einprägsam klang, setzte sich unter Alfisti schnell der Begriff "Knochenheck" durch, der auf die Form des gesamten Heckbereichs anspielte. Auf den vorderen Kotflügeln prangten vierblättrige Kleeblätter, die traditionellen Motorsport-Glücksbringer von Alfa Romeo. Die Giulia war außerdem eines der ersten Fahrzeuge überhaupt, das nach Gesichtspunkten des Unfallschutzes konstruiert war. Eine Sicherheitskarosserie und definierte Crashstrukturen machten die neue Limousine zu einem der sichersten Pkw ihrer Zeit.

Das Fahrwerk der mit dem Baureihencode 105 versehenen Giulia entsprach weitgehend dem der Vorgängerin Giulietta, war aber in Details verbessert. So kamen an der Vorderachse zusätzliche obere Querlenker zum Einsatz. Die Hinterachse wurde von neu gestalteten Längslenkern und einem T-förmigen Reaktionsdreieck wesentlich besser geführt.


1963 startete Giulia 1600 TI Super

Kein Wunder, dass die "Bella Donna" aus Mailand bald auch auf den Rennstrecken auftauchte. Richtig Schwung kam 1963 in die Sache, als wiederum in Monza eine Sportversion vorgestellt wurde: Die Giulia 1600 TI Super wurde von einem durch zwei Weber-Doppelvergaser auf 113 PS erstarkten Motor angetrieben. Lenkradschaltung und durchgehende Sitzbank vorn waren einem auf dem Mitteltunnel positionierten Schalthebel und zwei einzelnen Schalensitzen gewichen. Die Felgen war aus Elektron gegossen, einer besonders leichten, aus dem Flugzeugbau stammenden Magnesium-Aluminium-Legierung. Insgesamt war die Giulia 1600 TI Super rund 100 Kilogramm leichter als die zivilere Variante, im Motorsport eine Welt.

Allerdings war das neue Modell auch 60 Prozent teurer. Alfa Romeo baute deshalb lediglich exakt 501 Exemplare. Genug, um die im Motorsport geforderten Mindeststückzahlen zu erfüllen und zahlreiche Privatfahrer mit Rennautos zu versorgen. Die meisten entschieden sich für die optional erhältlichen Scheibenbremsen an der Vorderachse - serienmäßig sorgen dort Trommeln für nicht gerade rennmäßige Verzögerung. Auch die Lenkradschaltung verströmte vorerst mehr Nutzwert als Sportlichkeit.


1964 kam die Giulia 1300

Im Frühjahr 1964 lud Alfa Romeo erneut nach Monza. Anlass war die Präsentation der Giulia 1300, mit der die Baureihe 105 nach unten abgerundet wurde. Die durchgehende Sitzbank vorn war endgültig Geschichte, ab sofort nahmen Fahrer und Beifahrer in Einzelsitzen Platz. Das Getriebe hatte zwar nur vier statt fünf Gänge, dafür aber serienmäßig den Schalthebel auf der Mittelkonsole. Zu erkennen war die Giulia 1300 an den einzelnen Scheinwerfern und dem Kühlergrill mit nur drei Querstreben, außerdem fiel die Serienausstattung etwas weniger umfangreich aus.

© Fiat Group Automobiles Germany AG

Alfa Romeo Giulia Coupé 1300 GTA Junior Corsa (1968-1972)
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Ab 1970 Giulia 1300 Super

Unter der Haube arbeitete ein bekanntes "cuore sportivo" - das sportliche Herz entsprach dem 1,3-Liter-Vierzylinder der Giulietta TI. Schnell wurde allerdings klar: Seine 78 PS wirken in der fast 100 kg schwereren Giulia etwas untermotorisiert. Erst die Steigerung auf zunächst 82 PS in der Giulia 1300 TI (ab 1965) und später auf 88 PS in der Giulia 1300 Super (ab 1970) sowie die Umstellung auf das besser abgestufte Fünfgang-Getriebe konnte die Fans überzeugen. Damit wurde auch der kleinere Motor in der Giulia zum Renner.

Noch umfangreicher als für das 1300er Modell gestaltete sich das Programm der Giulia mit 1600er Motor. Ab 1965 wurde parallel zum Modell 1600 TI - jetzt mit 90 PS - die Giulia 1600 Super angeboten, die nun 98 PS zur Verfügung stellte. Mittelschaltung, fünf Sitzplätze und 40er Weber-Doppelvergaser waren bei beiden Varianten nun Standard. Die Giulia 1600 TI erhielt neue Stoßfänger aus Edelstahl, im Innenraum musste der Bandtacho klassischen Rundinstrumenten weichen, außerdem gab es eine Mittelarmlehne für die Rücksitzbank.


Der Station Wagon

Der Mailänder Karosseriebetrieb Colli verwandelte die Giulia sogar in einen Kombi. Der in Kleinauflage gebaute "Station Wagon" - Schätzungen schwanken zwischen 200 und 500 Exemplaren - erfreute sich großer Beliebtheit bei italienischen Gesetzeshütern, von Polizia bis Carabinieri. Auch diverse Rennteams griffen auf den sportlich motorisierten Kombi als Servicefahrzeug zurück.

1967 wurden 1300er und 1600er Giulia optisch überarbeitet. Auch im Armaturenbrett von Giulia 1300 (80 PS) und Giulia 1300 TI (85 PS) fanden sich nun Rundinstrumente. Der Fahrer der Giulia 1600 Super (98 PS) griff jetzt nicht mehr in ein spindeldürres Bakelit-Lenkrad, sondern drehte an einem aus dem Coupé Giulia GT stammenden Dreispeichen-Volant.

1969 folgte die nächste Modernisierung. Alle Modellvarianten profitierten von verbesserter Geräuschdämmung und einer hydraulisch betätigten Kupplung. Die Giulia 1600 S ersetzte das Modell 1600 TI. Der in Leistung (96 PS) und Verbrauch leicht reduzierte Motor sollte die Eigenschaften als Langstreckenfahrzeug unterstreichen. Das Fahrwerk der Giulia 1600 Super wurde durch einen Hinterachs-Stabilisator und ein modifiziertes Reaktionsdreieck noch sportlicher.


Eine Modellfamilie rund um die Giulia

Rund um die Giulia entstand schnell eine ganze Modellfamilie. Anfangs übertrugen die Marketingstrategen den Namen Giulia kurzerhand auf Fahrzeuge, die in Wahrheit noch auf der Vorgänger-Baureihe 101 (Giulietta) beruhten. Nur der 1600er Motor von Giulia Sprint (1962), Giulia Spider (1962) und Giulia Sprint Speciale (1963) stammten aus dem neuen Baukastensystem. Auch der von einem Achtzylinder angetriebene Montreal (1971) galt offiziell als Angehöriger der Baureihe 105. Ja selbst der von Stardesigner Franco Scaglione gezeichnete Tipo 33 und die auf einem Gitterrohrrahmen aufbauende Giulia TZ, beides nur bedingt straßentaugliche Varianten von Alfa Romeo Rennwagen, gehörten zur erweiterten Verwandtschaft. Auf Anregung des Automobilmagazins "Quattroruote" ließ Zagato 1965 optisch den Alfa 6C 1750 (gebaut von 1929 bis 1932) mit Giulia-Technik wieder auferstehen.

Die technische Basis der Giulia war jedenfalls so variabel, dass auf dem Chassis der Limousine eine ganze Reihe weiterer Modelle entstanden. Im 21. Jahrhundert würde man von Plattformstrategie sprechen.

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Alfa Romeo Giulia Coupé 1600 Sprint GTA (1965-1969)
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Das Coupé Sprint GT von Bertone

Das Designstudio Bertone entwickelte beispielsweise das Coupé Sprint GT, heute unter Oldtimer-Fans schlicht als "Bertone" bekannt. Im Laufe der Zeit wuchs der Hubraum über zunächst 1.750 Kubikzentimeter bis auf satte zwei Liter an, das Kürzel GT erhielt die Ergänzung V für "Veloce". In der Motorsportabteilung Autodelta wurde eine Ultraleichtbau-Version mit einer Karosserie aus einer Aluminiumlegierung und einer Doppelzündung konstruiert - der spektakuläre und in zahlreichen Tourenwagenrennen siegreiche GTA. Von Zagato kam ein außerdem keilförmiges, zweisitziges Coupé auf Basis der Giulia. 1968 stellte Alfa Romeo der Giulia zusätzlich die etwas größere Limousine 1750 Berlina (ab 1971 auch als 2000 Berlina) zur Seite.

Im Modelljahr 1970 griff Alfa Romeo tiefer in die Technik der gesamten Baureihe ein. Die neu benannte Version Giulia 1300 Super (mit Doppelvergaser und jetzt 88 PS) und die Giulia 1600 Super verzögerten ab diesem Zeitpunkt mit einem Zweikreis-Bremssystem. Zu erkennen war diese Modifikation an den nun hängenden Pedalen für Bremse und Kupplung. Dazu kam die neue Anordnung des Handbremshebels auf der Mittelkonsole und des Zündschlosses links an der Lenksäule. Außerdem wurden fortan die beiden Baureihencodes 105 und 115 mehr oder weniger parallel verwendet.


Neue Modellbezeichnung Giulia 1.3 und Giulia 1.6 Super

Trotz erfolgreich umgesetzter Plattform-Strategie war zunehmende Rationalisierung auch in der Fertigung der Giulia ein unverzichtbares Thema. Ab 1972 waren die 1300er und 1600er Versionen bis auf den Motor technisch und auch optisch weitgehend identisch. Die Felgen kamen nun ohne die klassischen Radkappen aus. Damit einher ging eine Änderung der Modellbezeichnung auf Giulia 1.3 und Giulia 1.6 Super.

Ein letztes Mal wurde die Giulia-Baureihe 1974 modernisiert, gekennzeichnet durch den Namenszusatz Nuova (italienisch für "neu"). Die vier Hauptscheinwerfer waren nun gleich groß, den Kühlergrill zierte nur noch eine horizontale Chromleiste. Die Kofferraumhaube verlor die seit 1962 charakteristische Sicke - das "Knochenheck" war damit Vergangenheit.


1976 erstmals mit Diesel-Triebwerk

Mit einer weiteren Überraschung wartete Alfa Romeo 1976 auf - für die Giulia wurde erstmals ein Diesel-Triebwerk angeboten. Die Puristen waren entsetzt, doch aus heutiger Sicht bewiesen Entwicklungsabteilung und Marketingstrategen erstaunliche Weitsicht. Sie überließen das Zukunftspotenzial des Selbstzünders nicht kampflos anderen Marken. Der zugelieferte Perkins-Diesel leistete bei einem Hubraum von knapp 1,8 Litern ohne Turbolader bescheidene 50 PS. Ein Verbrauch von weniger als sechs Litern pro 100 Kilometer war Mitte der 1970er Jahre aber ein mehr als respektabler Wert. Immerhin über 6.500 Giulia Diesel wurden verkauft.


Neues Werk in Arese produzierte in 16 Jahren 300.000 Fahrzeuge

Die starke Nachfrage nach der Giulia überforderte das 1906 in Betrieb genommene Stammwerk von Alfa Romeo in Portello. In Arese, nördlich von Mailand, wurde deshalb eine neue Fabrik gebaut. Innerhalb von insgesamt 16 Jahren rollten hier knapp 300.000 Stück der verschiedenen Versionen der Giulia 1300 vom Band, außerdem rund 260.000 Exemplare mit 1600er Motor.

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Alfa Romeo 2600 Spider (1962-1965)
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Von Pininfarina kam der Alfa Romeo Spider

Nicht bei Alfa Romeo in Arese, sondern bei Pininfarina in Grugliasco in der Nähe von Turin, wurde ab 1966 der Alfa Romeo Spider gebaut. Auch der offene Zweisitzer, dessen Urversion im Film "Die Reifeprüfung" als Auto von Jungstar Dustin Hoffman unsterblich wurde, stammte von der Giulia ab. Ihre Gene lebten in den verschiedenen Generationen des Spiders noch bis Mitte der 1990er Jahre weiter. Von dieser Bilderbuch-Karriere ahnte freilich noch niemand etwas, der 1962 nach Monza zur Präsentation der Alfa Romeo Giulia 1600 TI gekommen war.

Schaubild 'Alfa Romeo Guilia - Modellhistorie




Derivate der Baureihen 105/115 - Modellhistorie

Giulia Sprint *
Giulia Spider *
Giulia Sprint Speciale *
Giulia Sprint GT
Giulia TZ **
Giulia GTC
Giulia Sprint GTA
Giulia Sprint GTV
Giulia Zagato Gran Sport
Spider 33 Stradale ***        
Giulia Sprint GTA Junior 1750 Berlina           
1300 GT Junior Zagato  
2000 Berlina           
1600 GT Junior Zagato  
1962 - 1964
1962 - 1965
1963 - 1965
1963 - 1976
1963 - 1967
1964 - 1966
1965 - 1969
1965 - 1976
1966 - 1967
1966 - 1995
1967 - 1969
1968 - 1975
1968 - 1972
1969 - 1972
1971 - 1976
1972 - 1975
1.600 cm3
1.600 cm3
1.600 cm3
1.300 + 1.600 cm3
1.600 cm3
1.600 cm3
1.600 cm3
1.600 - 2.000 cm3
1.600 cm3
1.300 - 2.000 cm3
2.000 cm3
1.300 cm3
1.750 cm3
1.300 cm3
2.000 cm3
1.600 cm3

* Modelle entsprechen technisch weitgehend der Baureihe 101 (Giulietta), nur Motor vom Modell Giulia
** Gitterrohrrahmen (Tubolare Zagato) mit Technik der Giulia
*** Projektname 105.33, da anfangs mit Technikkomponenten der Giulia getestet. Spätere Serienversion komplett eigenständig (z. B. V8-Motor).

*

Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2012